Sonntag, 23. März 2014

Die Lehrer in "tschick" und ihr classroom-management - nebst Liebe


Sie kennen das Buch wahrscheinlich. Vielleicht erinnern Sie sich dann auch an die Lehrer, die in dem Buch geschildert werden? Nachfolgend einige gekürzte Auszüge.
Man kann sie zum Vergnügen lesen oder auch unter dem Gesichtspunkt der Lehrer-Rollen, der Lehrer-Persönlichkeiten, der Unterrichts-Methodik.

Was feht eigentlich? (Klar: Die Mathetik :-)
Sind die Lehrer reine Karikaturen oder gibt es das so noch?
  • Ist Wagenbach aus LehrerInnen-Sicht zu beneiden?
  • Achtet  Strahl auf das Leistungs-Niveau?
  • Ist Kaltwasser der sympathischste?
  • Sind diese Lehrer herzlos oder sachlich, kühl und professionell?
  • Haben nicht alle ein gutes Classroom-Management?
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Wagenbach
Erste Stunde nach den Osterferien: Geschichte. Alle saßen auf ihren Stühlen wie festgetackert, weil, wenn einer ein autoritäres Arschloch ist, dann Wagenbach. Wobei Arschloch jetzt eine Übertreibung ist, eigentlich ist Wagenbach ganz okay. Er macht okayen Unterricht und ist wenigstens nicht dumm, wie die meisten anderen. Bei Wagenbach hat man keine Mühe, sich zu konzentrieren. Und man tut auch gut daran, weil, Wagenbach kann Leute richtig auseinandernehmen. Das weiß jeder. Selbst die, die ihn noch nie hatten. Bevor ein Fünftklässler zum ersten Mal das Hagecius-Gymnasium betritt, weiß er schon: Wagenbach, Achtung! Da ist es mucksmäuschenstill. Wenn bei Wagenbach ein Handy klingelt, kann derjenige sicher sein, die große Pause nicht lebend zu erreichen. Es gibt sogar das Gerücht, dass Wagenbach früher mal einen Hammer dabeihatte, um Handys zu zerkloppen. Ich weiß nicht, ob das stimmt.
Wagenbach kam also rein in dem schlechten Anzug und mit der braunen Kacktasche unterm Arm wie immer. Wagenbach knallte seine Tasche aufs Pult und drehte sich um. „Napoleon!“, sagte Wagenbach und machte eine Kunstpause, um eine Packung Papiertaschentücher aus der Aktentasche zu ziehen und sich ausführlich zu schnäuzen.

Strahl
Zwei Wochen danach kriegten wir die erste Arbeit in Mathe zurück. Strahl malte immer erst mal den Klassenspiegel an die Tafel, um einem Angst zu machen. Diesmal war eine Eins dabei, das war ungewöhnlich Strahls Lieblingssatz lautete: Einsen gibt's nur für den lieben Gott. Das Grauen. Bei Strahl war eine Zwei minus fast eine Eins. Ich drehte mich unauffällig um, wo der Jubelschrei wegen der Eins zu hören sein würde. Aber niemand jubelte.

Kaltwasser
war unser Deutschlehrer, und er kam immer ohne Begrüßung in die Klasse, oder zumindest hörte man die Begrüßung nicht, weil er schon mit Unterricht anfing, da war er noch gar nicht durch die Tür. Ich muss zugeben, dass ich Kaltwasser nicht ganz begriff. Kaltwasser ist neben Wagenbach der Einzige, der einen okayen Unterricht macht, aber während Wagenbach ein Arschloch ist, also menschlich, wird man aus Kaltwasser nicht schlau. Oder ich werde nicht schlau aus ihm. Der kommt rein wie eine Maschine und fängt an zu reden, und dann geht es 45 Minuten superkorrekt zu, und dann geht Kaltwasser wieder raus, und man weiß nicht, was man davon halten soll. Ich könnte nicht sagen, wie der zum Beispiel privat ist. Ich könnte nicht mal sagen, ob ich ihn nett finde oder nicht. Alle anderen sind sich einig, dass Kaltwasser ungefähr so nett ist wie ein gefrorener Haufen Scheiße, aber ich weiß es nicht. Ich könnte mir sogar vorstellen, dass er auf seine Weise ganz okay ist, außerhalb der Schule.
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  • Kann man eigentlich herzlos unterrichten?
  • Kann man eigentlich lieblos unterrichten?
  • Und wenn ja: Wird der Unterrichts-Erfolg dann wohl größer oder kleiner?





Ist das so ? Immer?
Ok.: Der Trend geht sowieso vom Unterrichten weg und hin zum Lernen, der Blick weg von der Lehrkraft als Sender hin zu selbst-bestimmt, eigenverantwortlich und individuell lernenden Lernenden:


Aber trotzdem: Würde der Unterrichts-Erfolg dann größer oder kleiner?

Und was ist Unterrichts-Erfolg überhaupt?
  • Ein besserer Notendurchschnitt? 
  • Später ein hohes Einkommen haben? 
  • Oder ist mir - wie Alexander Sutherland Neill einst sagte - "ein glücklicher Straßenfeger lieber als ein unglücklicher Professor", ist also das jetzige und - besser noch - das spätere Lebensglück der Indikator für Unterrichts-Erfolg?

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  • Manfred Kretschman sagt: "Ein guter Lehrer kann man nur sein, wenn man die Kinder und die Jugendlichen mag...". 
  • Ein Bildungsforscher (Hilbert Meyer) sagt: "Die entscheidende »Variable« für hohen Lernerfolg ist - neben den Schülern selbst - eine starke Lehrerpersönlichkeitsstruktur." 
  • Ein anderer Bildungsforscher (Benjamin Bloom) sagt: Was alle HochleisterInnen als einziges Merkmal gemeinsam haben ist, "dass alle frühzeitig eine Person gefunden haben, die sich für sie selbst sehr engagierte, für ihren Lernfortschritt, für ihr Weiterkommen".
  • Der Psychoanalytiker Sandor Ferenczi (gest. 1933) sagte, dass es keine Heilung ohne Sympathie gibt, und sein Kollege C.G. Jung (gest. 1961) sagte über Therapien: "Es ist eigentlich Heilung durch Liebe".
Ferenczi und Jung sprechen über Psychologie und Therapie - nicht über Pädagogik und Unterricht. Im Zusammenhang von Pädagogik von "Liebe" zu sprechen ist gerade ein ziemliches No-Go. Verantwortlich dafür ist vor allen Dingen Gerold Becker (1936-2010), der als Leiter der Odenwaldschule über viele Jahre hinweg seine Schutzbefohlenen sexuell missbraucht hat.
"Es herrscht Verunsicherung in der Gesellschaft", schreibt der Psycho-Analytiker Peter Schellenbaum, "Verunsicherung durch nicht kalkulierbare Terror-Risiken, Verunsicherung durch die ungedeckten Wechsel der marktwirtschaftlichlichen Ordnung, Verunsicherung durch zügellose Grenzüberschreitungen im Umkreis der Liebe... ."
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"Zügellose Grenzüberschreitungen im Umreis der Liebe", 
durch die eigenen Eltern, Onkels, Sport-Trainer, Pädagogen, Schullieter, Priester, Therapeuten. -

Vielleicht kennen Sie den Roman "Auf der Couch" von dem berühmten Psychiater und Schriftsteller Irvin D. Yalom (1998)? -  Klappentext:
"Ein junger Psychoanalytiker aus San Francisco, glaubt an die Wirksamkeit seines Tuns, ist aber andererseits davon überzeugt, daß die klassischen Therapien dringend einer
Erneuerung bedürfen. Eines Tages beauftragt ihn die Ethikkommission seines Fachbereichs mit der Untersuchung eines prekären Falls: Er soll die Arbeitsweise eines älteren, sehr berühmten Kollegen überprüfen, der angeklagt ist, ein Verhältnis mit einer vierzig Jahre jüngeren Patientin gehabt zu haben."
 - Unmittelbare Folge dieses Romans in meinem Freundeskreis: Eine Pfarrerin, die darüber nachdachte, sich in Therapie zu begeben, verzichtete nach Lektüre des Romans lebenslang auf Unterstützung durch eine Therapie, denn: Therapeuten haben doch alle nur DAS EINE im Sinn...

1. Der Umkreis der Liebe: "Mutter Teresa liebt die Armen"
Agape, die edelste Form der Liebe, besonders in christlichen Kreisen. Das Abendmahl oder das Liebesmahl oder die Apape-Feier, ein Symbol dafür, dass Gott die Menschen liebt und wir Gott (vgl. 1.Johannes 4, 19-21 und 1. Korinther 13). "Wir lieben, weil er uns zuerst geliebt hat. Wenn jemand sagt: Ich liebe Gott, und hasst seinen Bruder, so ist er ein Lügner. - Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er gesehen hat, wie kann der Gott lieben, den er nicht gesehen hat?" -
Mutter Teresa liebt die Armen. Agape, die keusche selbstlose Liebe,  frei von egoistischen Beweggründen und Eigennutz. (?)  Der Heilige Franz von Assisi küsst den ausgestoßenen Aussätzigen: "Franz kniete sich zu dem Gestürzten, redete mit ihm, half ihm hoch, hob das Tuch von seinem Gesicht und küsste es." (Aus: Luise Rinser, Bruder Feuer, 1979). - Liebt die Lehrkraft ihre SchülerInnen?

2. Der Umkreis der Liebe: Franziskus liebt Klara
Philia,  "Die vollkommene Freundschaft von zwei trefflichen Charakteren, die gleich sind", nennt sie Aristoteles. Freunde können, sagt der Dichter Homer, unverbrüchlich aufeinander zählen, sie gehen ggf. füreinander sogar in den Tod. Freundschaft, das ist das engste geistige Verhältnis zwischen zwei Menschen, die eine gemeinsame Gesinnung haben und oft auch gemeinsam aufgewachsen sind (sagen die SoziologInnen). Die Gleichheit zwischen den FreundInnen wird stets betont, oft auch das gleiche Alter.
Eros, sagt der Psychiater Peter Schellenbaum, "nährt und beschwingt die Freundschaft", aber: "Der anwesende Eros unterliegt in der Freundschaft einer natürlichen Hemmung."
Die Heilige Klara und der Heilige Franziskus können hier wieder als ein Beispiel aus der Religions-Geschichte dienen: Es gibt eine nette Legende über die beiden, die erzählt, wie Klara und Franz, die beide in Assisi aufgewachsen sind und beide aus reichen Elterhäusern stammten, eines Abends nebeneinander saßen; die Leute aus der kleinen Stadt liefen herbei, weil sie dachten, in der Stadt sei ein Feuer ausgebrochen. In Wirklichkeit war es - der Legende nach - das Feuer der (keuschen) intensiven Liebe, das den Himmel über ihnen entflammt hatte. - Klassiche Freundespaare findet man zahlreich in Literatur, Geschichte und Mythologie. - Können LehrerInnen und SchülerInnen Freunde werden?

3. Der Umkreis der Liebe: Eros und Leidenschaft
Platons Gastmahl: Wandmaleri im Café Bauer in Berlin
"Eros ist die elementare, ekstatische Eigenschaft der Liebe, er übersteigt das bloß Vernünftige und entlädt sich im schöpferischen Überschwang." (Schellenbaum a.a.O.). Im Eros fließen geistige Liebe - Agape - und sinnliche Liebe zusammen.
In Platons "Symposion" (geschrieben etwa 380 v.Chr.) einigen sich alle Gäste des Gastmahls nach und nach darauf, ihre Meinung oder Sichtweise von der Liebe darzustellen und halten dann nacheinander Reden über den Eros, die Leidenschaft. Über Eros und Pädagogik hat Prof. Jürgen Oelkers im Jahr 2011 ein  Buch geschrieben mit dem Titel: "Eros und Herrschaft". -  Es ist nicht unumstritten ("Zu wenig Sinn für Zwischentöne und die Historizität des Problem", NZZ 9.11.2011) und sehr eifernd, doch historisch sehr lehrreich.
Siehe auch: Kriminalgeschichte der Reformpädagogik


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Zurück zu tschick:








"Die Schule fing wieder an. Statt 8c stand jetzt 9c an der Tür von unserem Klassenraum. Sonst hatte sich nicht viel verändert. Es war noch die gleiche Sitzordnung wie in der Achten. Jeder saß da, wo er vorher gesessen hatte.
Erste Stunde am ersten Tag nach den Sommerferien. Ich war eine Minute zu spät, kriegte aber ausnahmsweise keinen Anschiss. Wagenbach hob nur eine Augenbraue und schrieb das Wort »Bismarck« an die Tafel."

Viele Erfolg beim Lernen!
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Samstag, 1. März 2014

Von Kompetenzrastern, Inkompetenz, vom Beichtspiegel, dem erschöpften Selbst und Religions-Unterricht

Siehe auch:
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1971
erschien im Kreuz-Verlag dieses Buch von Manfred Böhm:
Die Welt begreifen.  Texte für denkbereite Christen.

40 Jahre später 
kritisieren katholische Religionspädogogen, die sich der Befreiungstheologie verbunden fühle, dass es bei dem was aktuell - wenn es nach den Vorstellungen der OECD geht - in Schule und Ausbildung gelernt werden soll, eben gerade nicht mehr darum geht,
die Welt zu begreifen und zu verstehen,
nicht mehr darum, sich in der Welt orientieren zu können oder gar sie verändern zu können.

Sondern Bildung werde in Zeiten des Neoliberalismus in erster Linie als Investitition in die eigene Person angesehen, als (Bildungs-) Kapital, mit dem ich auf dem Arbeitsmarkt wuchern und gegen andere mit weniger (Bildungs-) Kapital konkurrieren kann: "Das neoliberale Dogma, das Gary Becker 1976 formulierte, kennzeichnet die herrschende Sichtweise auf Mensch und Gesellschaft; die Human-Kapitaltheorie die er und andere entwickelt haben, eröffnet den Blick auf menschliches Verhalten aus einer ökonomischen Perspektive." -

Lernen dient seitdem vornehmlich meiner persönlichen Kompetenz-Vermehrung, ich sammle Kompetenzen, weil sie mir auf dem Markt eine persönliche Nutzenmaximierung ermöglichen. (Siehe auch den o.g. Link zu Becker und die Broschüre "Erziehung zur Inkompetenz" Seite 4).


Warum sollte ich auf ein Gymnasium gehen? Weil mich Wissen und Bildung interessieren? Luxus! -
Weil ich die Welt begreifen will?
Überflüssig! -
Weil ich die Welt vielleicht ändern will? - Unfug!

  • Ich bin Unternehmer/in meiner selbst.
  • Ich bin meine Ich-AG.
  • Ich will in mich investieren. 
  • Ich will mein Bildungs-Kapital vermehren.
  • Ich will Erfolg haben.
  • Ich bin allein verantwortlich für meinen Erfolg. 
  • Ich bin meines Glückes Schmid. 
  • Ich bin allein verantwortlich für mein Scheitern.
  • Ich bin selber Schuld.


Aus dem Gedicht "Einladung" von Nazim Hikmet
(1902-1963)
"Leben einzeln und frei
Wie ein Baum und dabei
Brüderlich wie ein Wald
Diese Sehnsucht ist alt
Sie gibt uns Halt"

sang Hannes Wader 1982 in Anlehnung an den türkischen Dichter Hikmet.

"Leben einzeln und frei" ist geblieben,
"brüderlich wie ein Wald" wurde im neoliberalen Song-Text gestrichen.

"Willst du unsern langen schweren Weg
Gemeinsam mit uns geh'n?
Oder willst du deine Kraft verschwenden
Im Alleingang gegen eine ganze Welt
Um zum Schluss in traurigen Legenden
Darzusteh'n als gescheiterter Held?"

Gescheiterter Held hieß es bei Hannes Wader 1982, Das erschöpfte Selbst nannte es der französische Soziologe Alain Ehrenberg 1998 (deutsch 2004).
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Die o.g. 12-seitige kleine Broschüre Erziehung zur "Inkompetenz" (12 Seiten) ist  unter > dieser Adresse zu beziehen.
Aus den Literatur-Hinweisen der Broschüre (nach Erscheinungsdatum sortiert):

  • Gary S. Becker, Der ökonomische Ansatz zur Erklärung menschlichen Verhaltens, Tübingen 1982
  • Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen Bd. 1, München 1987, S. 100 und S. 97
  • Eckard Klieme, Was sind Kompetenzen und wie lassen sie sich messen?, in: Pädagogik 6/2004
  • EMPFEHLUNG DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES vom 18. Dezember 2006 zu Schlüsselkompetenzen für lebensbegleitendes Lernen, in: Amtsblatt der Europäischen Union, 18. Dezember 2006, S. 17 u. 18
  • Michel Foucault, Die Geburt der Biopolitik. Frankfurt am Main 2006
  • Michel Foucault, Subjekt und Macht, in: ders., Ästhetik der Existenz, herausgegeben von Daniel Defert und Francois Ewald, Frankfurt am Main 2007, S. 88, S. 89
  • Alain Ehrenberg, Das erschöpfte Selbst, Frankfurt am Main 2008
  • Kathrin Dedering, Martin Goecke, Melanie Rauh unter Mitarbeit von Christoph Höfer, Externe Schulentwicklungsberatung in Nordrhein-Westfalen — Grundinformationen. Eine Untersuchung im Rahmen des DFG-Projektes „Wie beraten die Berater? Externe Berater als Akteure der Schulentwicklung" an der Universität Bielefeld, Fakultät für Erziehungswissenschaft, abgeschlossen im Mai 2010, S. 52
  • Deutscher Qualifikationsrahmen für lebenslanges Lernen verabschiedet vom Arbeitskreis Deutscher Qualifikationsrahmen (AK DQR) am 22. März 2011, S. 3, S. 7
  • Paulo Freire, Eine Antwort, in: ders., Bildung und Hoffnung, herausgegeben von Peter Schreiner, Norbert Mette, Dirk Oesselmann, Dieter Kinkelbur, Münster, New York, München, Berlin 2007, S. 136
  • Gary S. Becker, Eine späte „Antwort" auf Foucault in einem Seminar der Universität von Chicago, gehalten im Mai 2012. http://vimeo.com/43984248 
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Und was ist mit dem Beichtspiegel?
Text-Auszug: Lenkung durch Individualisierung
»Michel Foucault, der französische Philosoph und Analytiker der Macht, hat sich relativ spät und leider nicht mehr systematische mit einer Machtform beschäftigt, die […] in unserer Gesellschaft immer mehr an Bedeutung verloren hat: der Pastoralmacht. […]

Diese Machtform lässt sich „nur ausüben, wenn man weiß, was in den Köpfen der Menschen vor sich geht, wenn man ihre Seele erforscht, wenn man sie zwingt, ihre intimsten Geheimnisse preiszugeben. Sie setzt voraus, dass man das Bewusstsein des Einzelnen kennt und zu lenken vermag." Der prototypische Ort dieser Hirtenmacht ist — wie könnte es anders sein — die Beichte in der katholischen Kirche.

Auch wenn diese Machtform innerhalb der Kirche immer mehr zerrinnt, so heißt das nicht, dass sie überhaupt an Bedeutung verliert. Foucaults These:
Die Pastoralmacht ist eine Machtform, die ausgehend von über Jahrhunderte eingeübten kirchlichen Praktiken wiederzufinden ist in den unterschiedlichsten Bereichen unserer modernen bzw. postmodernen Gesellschaft. Und sie ist eine individualisierende Machtform, eine Form der Lenkung, die nicht unmittelbar auf das Subjekt, sondern auf sein Handeln zielt.

Dies hilft uns zu verstehen, wie die scheinbar offeneren Lernformen mit dem Phänomen der Machtausübung und Lenkung zusammenhängen und so mit dem Projekt des Neoliberalismus verwoben werden können.
Das Entscheidende an der Pastoralmacht ist, dass sie eine Machttechnik ist, die durch andere als die kirchlichen Institutionen übernommen wird und als neue, vielfältig verwendbare Machtform zur Verfügung steht. Die ehemals auf das Jenseits ausgerichtete Pastoralmacht kreist nun um das Heil des Menschen im Diesseits […].

Diese Macht ist gerade nicht zu verwechseln mit Gewalt oder Zwang. Wenn wir uns die Veränderungen in der Schule anschauen, dann lässt sich über einen längeren Zeitraum zeigen, wie sich die Formen der Einwirkungen auf Schülerinnen immer weiter von Gewalt und Zwangsmaßnahmen entfernt haben. Stattdessen haben sich Machttechniken entwickelt, die näher am Subjekt sind, gerade weil sie nicht mehr versuchen direkt auf das Subjekt einzuwirken, sondern sein Handeln in den Blick nehmen. [Output-Orientierung]
Nur so kann es gelingen, das Bewusstsein des Einzelnen zu erreichen und dadurch zu lenken, anstatt es zu zwingen.

An dieser Stelle wird nun auch deutlich, wozu die Standardisierungen in der Schule gebraucht werden: Ähnlich einem Beichtspiegel, wie er noch in den 60er und 70er Jahren in katholischen Kirchen üblich war und durch den die Einhaltung der Gebote detailliert abgefragt wurde, sind Standardisierungen die entscheidende Kontrollinstanz in Bezug auf das Handeln, weil nur mit ihnen überprüft werden kann, ob „richtig" gehandelt wurde.
Und sie sind zugleich der Hinweis auf das Misstrauen gegenüber wirklicher Individualität und wirklicher Heterogenität, die möglicherweise doch zu „falschem" Handeln führen könnten. (So ist auch der Beichtspiegel der lebendige Beweis dafür, dass dem eigentlichen Gebot nicht getraut und es durch die eingeführten Standards konterkariert wurde.) Darüber hinaus sind sie der Garant und Indikator für die Marktförmigkeit der erworbenen Qualifikationen und Kompetenzen. […]«
(Broschüre S. 5f)
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 Siehe auch: