Freitag, 30. Mai 2014

Abitur für alle? Von Gentry, Literaten, Konfuzius und der OECD


Abitur für alle?

Kaija Kutter:
Im Vergleich zu 2001 machen heute auch viel mehr Schüler das Abitur. Da wird allerdings schon wieder die Sorge laut, dass das Abitur bald nichts mehr wert sein könnte.
 Andreas Schleicher
Wenn die Leute sagen, das Abi ist weniger wert, weil es mehr Menschen machen, liegt dem die Vorstellung zugrunde, bei Bildung gehe es um Selektion. Vor 100 Jahren hätte man wahrscheinlich diskutiert, ob alle Kinder zur Grundschule müssen oder ob nicht die Hälfte reicht. Dabei gibt es Länder, in denen auch Schüler ohne Abi im Schnitt so gut abschneiden wie in Deutschland die Abiturienten. Für die Behauptung, dass Abitur verliere an Wert, gibt es jedenfalls keinen empirischen Beweis.

Warum die OECD und Andreas Schleicher möchten, dass möglicht viele Menschen Abitur machen und danach studieren, warum sie möchten, dass auch in Deutschland die Abitur-Quote noch weiter gesteigert wird, ist in diesem BLOG und anderswo schon öfter besprochen worden.
Zum Beispiel > hier und >hier und > hier.

Andreas Schleicher sagt: "Wenn die Leute sagen, das Abi ist weniger wert, weil es mehr Menschen machen, liegt dem die Vorstellung zugrunde, bei Bildung gehe es um Selektion". Die Vorstellung ist bei diesen Menschen: Nicht jede/r darf auf das Gymnasium. Nach Klasse 4 muss deshalb eine Selektion erfolgen, damit nicht Hans und Franz aus das Gymnasium gehen.

Prof. Elsbeth Stern
Die GymnasiallehrerInnen bereiten dann diese möglichst kleine Schar der GymnasiastInnen - (Prof. Dr. Elsbeth Stern, Psychologin und Professorin an der Eidgenössischen Technischen Hochschle (ETH) Zürich, spricht meistens von 20-25% eines Jahrgangs) - auf das Abitur vor. Und von jenen, die das Ziel Abitur erreicht haben, darf dann wiederum nur ein Teil, die Bildungs-Elite, auf die Universität gehen und studieren. -


Das ist EIN denkbares Modell -  zumindest mal gewesen. Inzwischen funktioniert es - aus verschiedenen Gründen - so kaum noch. Und viele Menschen sind der Meinung: So soll es auch nicht wieder funktionieren.
Höre auch: Ist das Turbo-Abitur gescheitert? mit Elsbeth Stern u.a..
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Noch strenger als Frau Stern  ...
... waren die alten Chinesen. Was im o.g. Modell die Bildungs-Elite ist, war im kaiserlichen China über 1000 Jahre lang die Gentry (shenshi): Vom 7. bis Anfang des 20. Jahrunderts. Durch das System der chinesischen Beamten-Prüfungen (kējǔ)  - an denen übrigens jedermann teilnehmen konnte! - wurden die Kandidaten für die öffentlichen Ämter ausgewählt. Diese Prüfungen waren DER Weg zum sozialen Aufstieg im kaiserlichen Land der Mitte. Das etwa eine Prozent der Bevölkerung, das alle drei Staatsexamina  - (Präfektur-, Provinz- und Palastprüfung) - bestanden hatte, konnte so in die Bildungs-Elite aufsteigen.
Auch damals bekam nicht jeder, der alle drei Staatsprüfungen abgelegt hatte, einen der attraktiven Jobs im Staatsdienst in der Hauptstadt. Der Rest der Gentry ging zurück in die Heimatorte, wo er dann als Scharnier zwischen der Bevölkerung und der kaiserlichen Regierung diente und sich um die lokalen Angelegenheiten kümmerte wie z.B. die Schiedsgerichtsbarkeit, die Bewässerung, die Einhaltung der konfuzianischen Rituale im Tempel ...
Dieses Prüfungssystem wurde erst 1905, kurz vor dem Ende des Kaiserreichs, abgeschafft. 

Erste Rettungsmaßnahme: Reform des Bildungssystems
Pun Yi -
Der letzte Kaiser der Qin

1300 Jahre lang waren die Staatsprüfungen der Weg zu Einfluss und Wohlstand, zu Macht und gesichertem Einkommen. Im 19 Jahrhundert stellte man plötzlich schmerzhaft fest, dass dieses Bildungs-System international nicht mehr konkurrenzfähig war:

China war immer der Lehrmeister Japans gewesen, aber 1895 wurde China plötzlich von Japan militärisch besiegt. 10 Jahre später, 1905, besiegte Japan in der Seeschlacht von Tsushima sogar das russische Kaiserreich: Die gelbe Rasse besiegte - bis dahin unvorstellbar - erstmals die weiße Rasse.  Japan war besser organisiert, hatte die besseren Schlachtschiffe und die bessere Technologie. China dagegen hatte unter seiner letzten Dynastie der Qing die Entwicklung verschlafen, es hatte sich auf seinen Erfolgen ausgeruht, der Riese war eingeschlafen und eingebildet. ("Einbildung ist auch eine Bildung" pflegte meine Oma zu sagen.) China, "der schlafende Riese" (Napoleon),  war in die Hände der japanischen und europäischen Aggressoren geraten, Japan dagegen war zusammen mit Deutschland, Frankreich, England und anderen Mächten selber eine imperialistische Macht geworden, zur gelben Gefahr. Manche Chinesen entwickelten eine Hass-Liebe zu Japan: Warum ist China so zurückgeblieben im Vergleich zu dem virbrierenden und sich wandelnden Japan? Anfang des 20. Jahrhunderts strömten 13.000 junge Chinesen auf  Colleges und Militär-Akademien nach Japan. Dort in Tokio bildeten sie unter Sun Yat-sen im Jahre 1905 ihre erste revolutionäre Allianz gegen den chinesischen Kaiserhof und für die Befreiung Chinas von den auslänischen Aggressoren.

Sun Yat-sen
China war zu einem halbkolonialen ausgebeuteten Riesen geworden und wachte nun langsam auf. 
Neue "Eliten" waren nicht mehr bereit, sich der alten kaiserlichen Elite unterzuordnen, die versagt und geschlafen hatte. Durch Handel zu Wohlstand gekommene Kaufleute, ein neues Offizierkorps, die Gentry auf dem Lande und zahlreiche aus dem Ausland zurück gekehrte gebildete Studenten verbündeten sich und wagten Aufstände gegen den Kaiserhof und die eingedrungenen  "gelben und weißenTeufel".
Bis 1908 lebte und regierte noch die die Kaiser-Witwe Cixi. Im Angesicht der Möglichkeit, dass dem Kaiserhof mitsamt China die Auslöschung drohte, war ihre erste Rettungsmaßnahme: Eine Bildungsreform. Der Hof verordnete die Einrichtung eines modernen Schul-Systems. "Die 1905 beschlossene Abschaffung der Staatprüfungen war der revolutionärste Akt in der Geschichte Chinas des 20. Jahrhunderts", so der US-amerikanische Hostoriker Prof. Keith Schoppa.   -  Für den Kaiserhof selber kam der Rettungversuch allerdings zu spät ...

Nach der erfolgreichen Revolution des Jahres 1911 wählten die rebellierenden Chinesen  den im westlichen Ausland zur Schule gegangenen und christlich getauften chinesischen Arzt Sun Yat-sen zum ersten Präsidenten des neuen nachkaiserlichen China .  Er hatte seine schulische Laufbahn mit 13 Jahren im Westen fortgesetzt, in christlichen Missionsschulen in Honolulu auf Hawai, weil es dort nach Ansicht seines älteren Bruders - ein wohlhabender chinesischer Kaufmann aus Chinatown Hawai - die beste Ausbildung gab, die man zu der Zeit einkaufen konnte.  (Zuletzt war Sun übrigens auf dem Punahou-College, derselben Schule, auf der auch US-Präsident Barack Obama Schüler gewesen ist. ... )


Und was sagt uns das?
  • So kann`s gehen, wenn man glaubt, man habe das beste Bildungssystem der Welt, man sei immer noch "Das Reich der Mitte" und wenn man den Lauf der Dinge verschläft.
  • Und wie ist das jetzt mit PISA, dem Gymnasium, der deutschen Bildung, dem europäischen Reich der Mitte und so? _____________________________

Dienstag, 13. Mai 2014

Widerstand gegen PISA


Prof. Krautz von der Bergischen Universität Wuppertal schreibt:

"Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen,

manche von Ihnen haben vielleicht schon davon gehört, aber ich möchte nicht verpassen, Sie auf diese wichtige Initiative hinzuweisen:
Endlich vernetzt sich der Widerstand gegen das Bildungsdiktat, das die OECD mit PISA ausübt, auch international. Der Kollege Heinz-Dieter Meyer, der in New York lehrt, hat einen offenen Brief an PISA-Chef Andreas Schleicher formuliert, der die verheerenden Folgen benennt, die notwendigen kritischen Fragen stellt und Vorschläge zur Besserung macht. Als Erstunterzeichner haben über hundert Wissenschaftler, Pädagogen und Elternvertreter aus diversen Ländern unterschrieben."
Seit Anfang Mai 2014 kursiert dieser Brief im Internet. Verfasst wurde er vom New Yorker Bildungsforscher an der UNIVERSITY AT ALBANY - State University of New York mit dem schönen deutschen Namen Heinz-Dieter Meyer sowie von Dr. Katie Zahedi, Schulleiterin der Linden Avenue Middle School in Redhook, NY. 

Unterzeichnet wurde der Brief in den USA u.a. auch vom legendären Noam Chomsky (Jg. 1928), in Deutschland u.a. von Heinz-Peter - auch ein schöner deutscher Name - Meidinger, dem Vorsitzenden des Philologenverbandes, und von Jürgen Böhm, dem Chef des Verbandes Deutscher Realschullehrer - die sich sonst gerne mal gegen Gemeinschaftsschulen und Gesamtschulen äußern. Aber auch vom Soziologen Richard Münch (Jg. 1945), der andernorts den Akademischen Kapitalismus beklagt. Nicht unterschrieben hat die GEW, die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, die sich aber an anderer Stelle zum PISA-Hype geäußert hat.

Die autorisierte deutsche Fassung des Meyer-Zahedi-Briefes beginnt so: 
Heinz-Dieter Meyer
» Sehr geehrter Herr Dr. Schleicher,
wir wenden uns an Sie in Ihrer Funktion als verantwortlicher Direktor der OECD für das „ Programme of International Student Assessment“ (PISA). Im dreizehnten Jahr nach seiner Einführung ist PISA heute weltweit als Instrument bekannt, um Ranglisten von OECD-Mitgliedsländern und Nicht-OECDStaaten (mehr als 60 in der letzten Zählung) zu erstellen und zwar aufgrund der Bewertung von Testleistungen von 15-jährigen Schülerinnen und Schülern in Mathematik, Naturwissenschaften und Lesen. ... 
Katie Zahedi
PISA hat die Bildungspraxis in vielen Ländern inzwischen tiefgreifend beeinflusst. Als Folge der PISA-Tests reformieren Staaten ihre Bildungssysteme in der Hoffnung, ihr Abschneiden im PISA-Ranking zu verbessern. In vielen Ländern führte der mangelnde Fortschritt bei den PISA-Tests dazu, eine „Bildungskatastrophe“ oder einen „PISA-Schock“ auszurufen, gefolgt von Rücktrittsforde rungen und weitreichenden Reformen gemäß PISA-Maßstäben. 
Wir sind offen gestanden tief besorgt über die negativen Folgen der PISA-Rankings. Nachfolgend einige unserer Bedenken: ... «

  • Den englischen Original-Text können Sie > hier nachlesen oder auch > hier
  • Eine Antwort  der OECD finden Sie > hier.
  • Ein Interview in deutscher Sprache dazu mit PISA-Koordinator Andreas Schleicher > hier.

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Siehe auch: 
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Andreas Schleicher (Jg. 1964):
"Schüler, die die bei Pisa geforderten Kompetenzen nicht beherrschen, haben im Sozial- und Arbeitsleben wenig Chancen". (Quelle)
Über Jón Gnarr, Jg. 1967, Bürgermeister von Reykjavik, der Hauptstadt Islands, seit 2010:
Jón Gnarr (Quelle: wikipedia)
"In der Schule fiel Gnarr von Anfang an durch. Die Ärzte deklarierten ihn als zurückgeblieben: Er war klein, schmal, hatte ADHS und Migräneanfälle. Schreiben lernte er erst mit 14. Und bis er die Monate fehlerfrei aufsagen konnte, war er 16. In dem Alter hatte er bereits zwei Selbstmordversuche und eine Laufbahn durch mehrere Schwererziehbarenheime hinter sich. Alle, er selbst inbegriffen, hielten ihn für dumm. So traf er mit 13 drei Entscheidungen: Er wurde Punk. Er wurde Klassenclown. («Lieber der Clown als nur dumm.») Und er stellte das offizielle Lernen in der Schule ein." (Quelle) 
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