Samstag, 9. Februar 2013

Von 100 Akademiker-Kindern landen 83 auf der Uni - von 100 Arbeiter-Kindern nur 11


Von der angeblichen Klassenlosigkeit der Gesellschaft 

und der "meritokratischen Illusion“

Letztere geht davon aus, dass die hohe soziale Selektivität unseres Bildungs-Systems an der Auslese nach Leistung liege: Wer etwas leiste, kommt nach oben (an die Uni, an die gut-bezahlten Arbeitsplätze),
wer tüchtig und leistungsfähig sei, setze sich durch.

Diese Erklärung beruhigt das soziale Gewissen. PISA hat das Illusionäre an der meritokratischen Erklärung erneut mit eindrucksvollen Zahlen belegt.
 
 "Der französische Soziologe Pierre Bourdieu hat in den 1970er-Jahren den treffenden Begriff des Bildungskapitals (capital scolaire) geprägt. Dieser hat sich mit Recht schnell verbreitet, denn er weist darauf hin, dass Bildung ( – oder genauer: die Abschlusszertifikate von Schulen und Hochschulen – ) in modernen Gesellschaften eine zentrale Ressource für die individuellen Lebenschancen sind.
Gute Bildungsabschlüsse sind nicht die alleinige, aber eine wichtige Voraussetzung dafür, um gesellschaftliche Chancen wahrzunehmenund soziale Risiken zu minimieren." -
(Rainer Geißler, Professor für Soziologie an der Uni Gießen, im Jahr 2006)


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Das individuelle Bildungskapital 


lässt sich in der Regel über gesellschaftliche Führungspositionen auch in entsprechend gute Einkommen und einen hohen Lebensstandard umsetzen:
  • Besser Qualifizierte leben tendenziell gesünder als niedrig Qualifizierte.
  • Im Jahr 2004 war die Gefahr, unter die Sozialhilfegrenze zu rutschen, für Personen ohne Hauptschulabschluss um das 13fache höher als für Hochschulabsolventen.
  • Das Risiko der Ungelernten, arbeitslos zu werden, lag in den letzten 25 Jahren stets um mindestens das 3- bis 6-fache über dem der Studierten.
  • Der Einstieg oder Aufstieg in höhere berufliche Positionen ist immer häufiger an einen Hochschulabschluss gebunden. - Diese „Akademisierung“ vollzieht sich in ähnlicher Form auch in anderen Berufsfeldern, in den höheren Ebenen des politischen Bereichs – z.B. in den Parlamenten, den Parteien und selbst in den Gewerkschaftsführungen – sowie beim Aufstieg in die Eliten. 
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 Die Illusion der Chancengleichheit

Seit den 70er-Jahren breitete sich in der Politik, aber leider auch in großen Teilen der Wissenschaft, die Illusion der Chancengleichheit aus.
Schicht-spezifisch ungleiche Bildungschancen waren als Thema über etwa ein Vierteljahrhundert aus dem bildungs- und gesellschafts-politischen Diskurs verschwunden, so Prof. Geißler. 


"Die Schule ist nicht in der Lage, die leistungsunabhängigen Filtereffekte der Familie zu kompensieren. Im Gegenteil: Die Verstöße gegen das meritokratische Prinzip werden in deutschen Schulen nochmals erheblich verstärkt."

Es ist wiederholt belegt worden, dass Bewertungen durch Lehrer/innen – die Notengebung und die Empfehlungen am Ende der Grundschulzeit für den weiteren Bildungsweg – auch von leistungsfremden
sozialen Kriterien beeinflusst sind, die zu Lasten der Kinder aus sozial schwachen Familien gehen.


Warum sollte man sich über schicht-typische Chancen den Kopf zerbrechen, wenn die meisten der deutschen Sozialstrukturanalytiker lautstark und wirkungsvoll die Auflösung der Schichten und Klassen verkündeten? Die „neue Theorie der Klassenlosigkeit“ dominierte
seit Mitte der 80er-Jahre die deutsche Sozialstrukturforschung und hatte auch große Ausstrahlungskraft auf die Nachbarwissenschaften, u.a. auf die Erziehungswissenschaften. Es bedurfte der Wucht
der international vergleichenden PISA-Studien, um die deutschen Politiker und Wissenschaftler aus ihrem 25-jährigen Dornröschenschlaf wachzurütteln.

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Die Bildungsreformen der 70er-Jahre waren dem damalsproklamierten Ziel der Chancengleichheit kaum näher gekommen:


Vom Ausbau der Realschulen 

profitierten zwischen 1970 und 1989 insbesondere die Kinder von Arbeitern (einschließlich Arbeiterelite), von Landwirten und von ausführenden Dienstleistern.
  • Auf der Ebene des mittleren Bildungsniveaus sind also die Chancen zu Gunsten der benachteiligten Schichten umverteilt worden.
  • Anders sieht es hingegen an den Gymnasien aus.  
Die Hauptgewinner der gymnasialen Expansion 
sind die Kinder, insbesondere die Töchter, des nicht-landwirtschaftlichen Mittelstands sowie der höheren Dienstleistungsschicht, (die bereits 1950 die besten Bildungschancen hatten).
  • Recht gut mithalten konnten auch die Kinder der mittleren Angestellten und Beamten. 
  • Die Kinder von einfachen Dienstleistern und der Arbeiterelite (Meister, Vorarbeiter) dagegen und insbesondere die Arbeiterkinder haben trotz gestiegener Chancen gegenüber allen anderen Gruppen an Boden verloren. 
  • Zudem stagnierte der Chancenzuwachs der Arbeiterkinder in den 1980er-Jahren. 
  • Beim Wettlauf um die höheren Bildungsabschlüsse haben sich also die Chancenabstände zwischen privilegierten und benachteiligten Gruppen vergrößert.
Die Chancen der Kinder von Un- und Angelernten, eine Realschule oder ein Gymnasium zu besuchen, stagnieren in den 90er-Jahren.

Noch krasser wirkt der soziale Filter beim zunehmenden Run auf die Universitäten.

Den Ausbau der Hochschulen nutzten ebenfalls insbesondere junge Menschen aus Gruppen, deren Studienchancen bereits 1969 vergleichsweise gut waren – Söhne und in noch stärkerem Maße Töchter von Selbstständigen (Zuwachs unter den Studienanfängern bis 2000 um 30 Prozentpunkte), von Beamten (26 Prozentpunkte) und von Angestellten (11 Prozentpunkte). 

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Ursachen der ungleichen Bildungschancen

Woran liegt es, dass es Kinder aus sozial schwachen Familien im deutschen Bildungssystem nach wie vor so schwer haben? Leider ist das komplexe Ursachengeflecht der schichttypisch ungleichen Bildungschancen bisher nur bruchstückhaft empirisch theoretisch ausgeleuchtet.

Eine umfassende, in sich schlüssige Theorie,die die wichtigen Faktoren sowie die Wechselwirkungen zwischen diesen quantitativ gewichtet, fehlt nach wie vor.

Es gibt aber anschauliche Beispiele aus dem Alltag, von denen sicher Jede/r aus eigener Anschauung in Verwandtschaft, Nachbarschaft und Bekanntschaft welche erzählen kann.

Ein Beispiel, die Promotionen betreffend, beschreibt Frau Kappert in der taz:

"Bislang lief das mit der Dissertation ja ungefähr so: Promovend schlägt ProfessorIn seiner Wahl ein privat gefundenes Thema vor und hofft, dass dieseR es annimmt. Oder ProfessorIn schlägt Promovendin ein Thema vor, weil er oder sie eine AssistentIn braucht, die Stelle als Promotionsstelle ausgeschrieben ist und es Grund zur Annahme gibt, dass der Auszubildende gut darin ist, Symposien und Sammelbände zu organisieren. Oder der Vater des angehenden Doktors ist ein befreundeter Prof. Das funktioniert so gut wie immer."
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Siehe auch: 

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