Auch die zappelnden Philipps 100 Jahre später waren noch gesund. - Erst ab 1994 wurden sie dann offiziell krank geschrieben.
Und das kam so:
Die Amerikanische Psychiatrische Vereinigung (APA) hat ein Handbuch psychischer Erkrankungen, das zum ersten Mal 1952 in den USA erschienen ist. Das Handbuch heißt DSM = Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders = Diagnostisches und Statistisches Handbuch Psychischer Störungen. Zurzeit gilt noch die 4. Fassung, das DSM-IV. - In ihm sind alle anerkannten psychischen Erkrankungen klassifiziert und nummeriert.
- Hat die Krankheit eine Nummer, gibt es diese Krankheit auch. Das ist ggf. nicht schlecht, denn dann zahlt die Krankenkasse den Arzt und die Medizin dagegen.
- Manchmal ist es auch nicht gut, denn im ersten DSM zum Beispiel (DSM-I, das bis 1973 galt), war ein homosexueller Mensch noch offiziell krank, weil Homosexualität im Handbuch als psychische Krankheit klassifiziert war. - Ab 1973 wurden Schwule & Lesben dann von einem Tag auf den anderen gesund geschrieben - weil der Passus im neuen Handbuch II ersatzlos gestrichen wurde.
Die Anekdote dazu: Als der Psychoanalytiker Irving Bieber [Vorfahre von Justin Bieber?] gefragt wurde „Hast Du die schrecklichen Neuigkeiten gehört? - Sie nehmen Homosexualität aus den zukünftigen Drucken von DSM-II heraus.“ antwortete er „Was ist DSM-II?“ - Beim Zappelphilipp ging es anders herum: Bis 1994 war er noch gesund, ab 1994 hatte er dann ADHS und war krank. Denn ab DSM IV stand ADHS als Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom im Handbuch und war damit eine offizielle psychische Erkrankung.
- Das war vielleicht gut für manches Kind und machen erwachsenen, dem nun die Diagnose ADHD erteilt wurde, denn seitdem kann der zappelnde Philipp zum Arzt gehen - und der verschreibt ihm dann, auf Kosten der Krankenkasse, z.B. Ritalin. Das taten dann auch viele Ärzte, und das wiederum war gut für die Pharmaindustrie: 1993 wurden in Deutschland noch 34 kg Ritalin verbraucht, 15 Jahre später - obwohl es inzwischen weniger Kinder gab - 1634 kg, also ca. 50 mal so viel 1,6 Tonnen mehr...
- Ob das für alle ca. 250.000 Kinder, die in Deutschland Ritalin nehmen, auch gut ist, ist umstritten. Man spricht von 90% Fehl-Diagnosen. -
Die Anekdote dazu: Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom heißt zu Recht "Aufmerksamkeits-Defizit"-Syndrom, denn es zeigt an, dass ein Kind ein Defizit an Aufmerksamkeit bekommt und deshalb zappelt es - aus Notwehr sozusagen.
| Mein, diese Mixtur ist nicht gut. Die Ratte wurde grün und hat fast ihr ganzes Fell verloren. Nehmen wir 30 mg Xylonene. Das sollte für Frau Turner in Ordnung sein. |
Ähnlich ging es auch dem Asperger-Autismus, der ebenfalls 1994 mit dem DSM-IV eingeführt wurde. Der Psychiatrie-Professor Allen Frances, der das DSM-IV als Chairman mitentwickelt hatte, sagte dazu: "Wir hatten gehofft, dass sich dadurch die Zahl der Autismus-Diagnosen um ein Drittel reduzieren würde - sie hat sich aber verzwanzigfacht. Und Studien legen nahe, dass etwa die Hälfte der Diagnosen falsch sind".
In der geplanten neuen Fassung, DSM-V, soll es wieder eine neue Kinderkrankheit geben: Disrupted Mood Dysregulation Disorder = impulsiv emotional dysregulierte Kinder. - Wenn Sie LehrerIn sind: Schauen Sie sich mal in Ihrer Klasse um: Vielleicht sind dann ab Mai 2013, wenn das DSM-V in Kraft treten soll, ein paar Ihrer SchülerInnen plötzlich von heute auf morgen psychisch krank...
Siehe auch:
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Das Schwester-Handbuch zum DSM, das in Deutschland verwendet wird und sich mit dem DSM abstimmt, heißt ICD. ICD = Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme. Die aktuelle, international gültige Ausgabe ist die Nummer 10: ICD-10.

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