Mittwoch, 19. Juni 2013

Individualisierung und Gesellschaft: Von der "Verdammung zur Individualisierung", Jan Böhmermann und der Unschuld

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Reden wir mal nicht direkt über individualisierte Lernen (siehe oben die zwei Links über individualisiertes Lernen als Methode des Unterrichts bzw. über "echtes" individualisiertes Lernen). 

Sondern über Individualierung und Gesellschaft.

I. Riskante Freiheit

Die SoziologInnen Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim schrieben 1994 in dem Buch "Riskante Freiheiten" von der "Verdammung zur Individualisierung": Wir wurden mehr und mehr befreit von Familien-, Gruppen-, Kirchen-, Herkunfts- und Standesnormen. Ich bin selber zuständig für mich und mein Leben. Aus Norm-Biografien wurden Wahl- und Bastelbiografien. Die Welt steht mit (angeblich) offen, ich darf - und muss - mein eigenes Leben erfinden. Die Kehrseite der Individualisierung heißt "Vereinzelung". Statt in Familie und Tradition beheimatet und getragen zu sein, finde ich mich nun als Artist in der Zirkuskuppel des Lebens wieder. 

Manch EineR ist ratlos - manch EineR stürzt ab -  verdammt zur Freiheit und Einsamkeit bei seiner Performance in der Zirkuskuppel. Gibt es ein Sicherheits-Seil, ein Sicherheits-Netz? Nein, jeder ist seines Glückes Schmid. Nutze deine Chance. Jeder hat ein Recht auf Scheitern.

Kein Wunder, wenn Jan Böhmermann  (Jahrgang 1981)  vom neuen (satirischen) NEO-MAGAZIN (ab Herbst 2013 im ZDF) nun zwanzig Jahre nach Erscheinen des Buches "Riskante Freiheiten" sagt:
"Unterhaltungsfernsehen muss wieder reaktionärer werden." Menschen bräuchten "Ansagen, nicht mehr diesen Wust an Möglichkeiten".
 Das wäre dann die reaktionäre (satirische?) Antwort auf auf die Verdammung zur Individualisierung, auf das Risiko der Freiheit.

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II. Wer keinen Arbeitsplatz findet, ist selber Schuld.

Der amerikanische Professor Dennis Ray aus Los Angeles schrieb 1971 einen Aufsatz, um den es eigentlich um "China nach Mao" ging und um unterschiedliche Gesellschaftssysteme. Was er damals als "laissez-faire-Kapitalismus" bezeichnete, würde man vielleicht heute auch als "freie" Marktwirtschaft bezeichnen oder Neo-"Liberalismus". Er sagte:
Eine Haupt-Tugend des laissez-faire-Kapitalismus ist es, dass er persönliches Scheitern durch persönliches Verschulden erklärt und rationalisiert - basierend auf dem Mythos von Chancen-Gleichheit und sozialer Mobilität. 


Ein [durch verschiedene Kampagnen wie die Kulturrevolution u.a.] über Jahre hinweg hoch mobilisiertes gesellschaftliches System wie das kommunistische China kann das Scheitern eines Individuums nicht auf seine persönlichen Defizite beziehen, weil sich sein ganzer Ethos darum dreht, dass menschliches Leid und Elend politische und ökonomische Ursachen hat. Das Individuum ist so konditioniert, dass es seinem Ärger und seiner Unzufriedenheit gegen den vermuteten politischen Feind und Verursacher richtet [den eigenen Kaiser, die ausländischen Kolonialherren, die Bourgeoisie im Lande...] - Das war ein wirksames politisches Mittel für die chinesischen Kommunisten, so lange der Zusammenhalt innerhalb der kommunistischen Elite funktionierte.
Sobald dieser Zusammenhalt aber zerbrach, konnten sich Frust und Feindseligkeit über schlechte Lebensbedingungen auch gegen verschiedene Segmente und Gruppen des Kommunistischen Establishments richten.In Zukunft könnte die Frustration aber auch von politischer Manipulation unabhängig werden und sich gegen jegliche Autorität richten. So kann die Dynamik der politischen Mobilisierung sich schließlich gegen die Legitimität der Regierung richten, wenn sie es nicht schafft, die Bedürfnisse und Erwartungen der Mehrheit des Volkes zu befriedigen. Das geschah in der Kulturrevolution, als sich der Zorn der revolutionären Jugend in Form der "Roten Garden"  gegen die Partei-Kader und die Partei-Bürokratie der Kommunistischen Partei Chinas richtete. 
III.Was sagt uns das?

Man könnte es so sehen: Ein politisches System, das die Bedürfnisse seiner Menschen nicht mehr befriedigen kann oder will, wird von Chancengleichheit, Freiheit des Individuums und davon reden, dass jeder seines Glückes Schmid sein darf und muss. 
Warum? Damit möglichst wenige der Menschen dieses Systems auf die Idee kommen, dass vielleicht auch die Regierung oder die Elite dieses Systems irgendwie daran beteiligt sein könnte, wenn ein Individuum selber aus jemand aus seiner Familie keine Arbeit mehr findet oder für immer mehr Stress immer weniger Lohn bekommt oder... .  Selber Schuld! Du hast ja alle Freiheiten und Chancen. Wahrscheinlich hast du in der Schule nicht genug getan? Sonst hättest du einen besseren Schulabschluss, einen besseren Abischnitt. - Ich, die Regierung, kann da gar nichts machen. Ich wasche meine Hände in Unschuld.


Unschuld-Seife

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