Quelle: Katherine Graham, S. 88 und 102 |
1936, im Alter von 19 Jahren, nach dem Besuch des Vassar-Colleges, einer Elitehochschule der sogenannten weißen angelsächsischen protestantischen Elite der USA, 100 km nördlich von New York City, wollte Katharine an einer anderen Universität weiterstudieren.
Aus ihrer Geschichte kann jede Studienanfängerin und jeder Studienanfänger mindestens zwei Dinge lernen.
Die Geschichte:
"Als ich im Spätsommer 1936 gemeinsam mit meinem Vater im Zug nach Mount Kisco fuhr, brachte ich meine Idee zur Sprache, ich wolle — wie schon mein Bruder Bill — das Studium an der London School of Economics fortsetzen. Doch dieser Vorschlag stieß auf glatte Ablehnung. -
Vassar-College
Mein Vater glaubte, Bill sei intellektuell noch zu unreif gewesen, um die sozialen Probleme Europas im richtigen Kontext sehen zu können. Und das gleiche galt seiner Meinung nach für mich.
Allerdings verstehe er, sagte mein Vater, warum ich aus Vassar wegwolle. Er habe nichts dagegen, wenn ich woanders weiterstudierte; jede amerikanische Universität sei ihm recht. Diese Wendung des Gesprächs überraschte mich jedoch so sehr, dass mir kaum eine Alternative zu London einfiel. Trotzdem hatte ich das Gefühl, sofort antworten zu müssen, anstatt, wie es normal gewesen wäre, alles in Ruhe zu überdenken. Ich traf eine spontane Entscheidung für die University of Chicago — allerdings nicht aus einem plötzlichen Impuls heraus, wirklich ernsthaft studieren zu wollen, sondern weil mir ein Bild eingefallen war, das ich in der Zeitschrift Redbook gesehen hatte:
Es zeigte Robert Maynard Hutchins, den jungen, dynamischen, gutaussehenden Präsidenten dieser Universität.
In der Bildunterschrift war die Rede davon gewesen, daß er den Lernprozess revolutioniere und mit neuen, interessanten Ideen zur College-Bildung Furore mache; seine Universität befinde sich in einem intellektuellen Gärungsprozess. In den eigentlichen Artikel hatte ich mich gar nicht weiter vertieft. Chicago als Großstadt im Mittleren Westen war für mich attraktiv, weil ich einfach mal woanders leben wollte als an der Ostküste. Ausserdem hatte die Universität männliche und weibliche Studenten. All dies hatte zu meiner spontanen Entscheidung im Zug beigetragen:
»Na gut«, sagte ich meinem Vater, »dann gehe ich eben nach Chicago.«
Und so ging ich nach Chicago, ohne mir noch viele Gedanken über meine Wahl zu machen.
Weniger als einen Monat nach dem Gespräch im Zug war ich bereits dort. Die Tragweite meiner Entscheidung hatte ich nicht vorhergesehen, und als ich merkte, worauf ich mich eingelassen hatte, steckte ich bereits mitten im Schlamassel.
Universität Chigago
Zur Immatrikulation hatte mein Vater mich nach Chicago begleitet — auch, um mir bei der Wohnungssuche behilflich zu sein; aber als er mich verlassen hatte, war ich in einer fremden Umgebung unter Tausenden von Studenten vollkommen auf mich allein gestellt. Ich kannte wirklich nur ein oder zwei Leute, und auch die nur oberflächlich. Vielleicht war es ganz gut, dass ich weder Zeit noch Verstand gehabt hatte, mir lebhaft vorzustellen, wie allein ich sein würde. Sonst hätte ich vielleicht einen Rückzieher gemacht. Wahrscheinlich tröstete ich mich mit dem Gedanken, dass ich ja nur ein Jahr bleiben wolle und jederzeit nach Vassar zurückkehren könne. Meine in Vassar hinterlassene Absichtsbekundung zurückzukommen diente mir in der Tat als Sicherheitsnetz.
Schritt für Schritt klärte sich jedoch die Lage, und es zeigte sich, dass diese Universität für mich genau das Richtige war. Ich fand meinen Weg, lebte mich immer besser ein und schloss mein Studium schließlich sogar in Chicago ab.
Ich lebte am Rande des Campus im International House; hier wimmelte es von ausländischen Studenten, graduierten Studenten und einigen weiteren, die wie ich den Hochschulort gewechselt hatten. Wir aßen alle in der Cafeteria, wo wir an runden Tischen zusammensaßen, welche uns die Gelegenheit boten, Freundschaften und Bekanntschaften jeder Art zu schließen. […]"
2 Jahre später.
"Mein Studium an der University of Chicago, dieser »noblen Institution«, wie ich sie meinen Eltern gegenüber nannte, endete Anfang Juni 1938. In den beiden Jahren dort waren meine Noten nicht so gut — oder manchmal auch nicht so schlecht —, wie sie hätten sein können.
Das störte mich jedoch nicht, weil ich trotzdem eine Menge gelernt habe."
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Von der Biologie wissen wir, dass der Mensch 2 Entscheidungs-Systeme hat.
- Das eine System (das limbische System) ist sehr alt - rund 100 Millionen Jahre - und sehr schnell; es entscheidet binnen 1/4 Sekunde. Musste es auch. Denn die Menschen, die sich in bestimmten Situationen der Entwicklungsgeschichte der Menschheit (wenn sie z.B. erst mal lange und in Ruhe überlegten, ob der Tiger wohl gefährlich sein könnte) zu spät entschieden, haben die Evolution nicht überlebt. Überlebt haben nur die Menschen, die diesen Mechanismus der blitzschnellen Entscheidung hatten. - Dieses limbische Sytem hat keine Sprache: Man kann hinterher nicht sagen und begründen, warum man sich blitzschnell so entschieden hat. Trotzdem hat das limbische System oft einen guten Grund, sich so und so zu entscheiden, auch wenn die Person, die das limbische System in ihrem Gehirn hat, den Grund nicht im Bewusstsein präsent hat. (Es ist allerdings nicht unfehlbar).
- Das 2. Entscheidungssystem, das Neuhirn oder Frontalhirn, ist noch nicht so alt, erst wenige Millionen Jahre, es ist viel langsamer als das 1. System, ermöglicht uns aber, Sachverhalte in Ruhe vorwärts und rückwärts zu durchdenken.
"Anstatt, wie es normal gewesen wäre, alles in Ruhe zu überdenken, traf ich eine spontane Entscheidung für die University of Chicago".
Diese Entscheidung für die Uni in Chikago fiel im limbischen System. Sie war nicht ohne Grund, denn es gab etwas an der Uni, das diese für Katherine sympathisch gemacht hatte: Der junge Rektor, die frischen Ideen und die neuen Lernprozesse dort. Das war irgendwann einmal bei ihr tief im Inneren hängen geblieben - und war der entscheidende Faktor für ihre blitzschnelle und spontane Entscheidung. Fazit: Auf diese erste 1/4 Sekunde in meinem Bauch-Gefühl achten, wenn ich eine Entscheidung treffen muss. Aber auch: Dieses Gefühl ist nicht unfehlbar; es gibt vielleicht, bei genauem Nachdenken, auch viele gute und vernünftige Gründe, sich anders zu entscheiden. Manchmal sind mir die guten Gründe aber auch zu vernünftig und ich muss mich zwischen der Bewertung der beiden Systeme entscheiden, mit mir selber in Verhandlungen treten.
"In den beiden Jahren dort waren meine Noten nicht so gut — oder manchmal auch nicht so schlecht —, wie sie hätten sein können."
Ja. Noten sind nicht Alles. Es gibt viele andere Faktoren, die für Glück und Zufriedenheit und Erfolg im Leben genau so wichtig oder vielleicht wichtiger sind.
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