Die Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (KMK) und das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) haben am 16.06.2016 den (inzwischen sechsten Bildungs-) Bericht „Bildung in Deutschland 2016“ vorgestellt.
Erstellt wurde der Bildungsbericht 2016 durch eine unabhängige Gruppe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern unter Federführung des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF). Dieser Gruppe gehören neben dem DIPF das Deutsche Jugendinstitut (DJI), das Deutsches Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW), das Soziologische Forschungsinstitut an der Universität Göttingen (SOFI) sowie das Statistische Bundesamt und die Statistischen Ämter der Länder an.
_____________________________
Dasselbe Lied in jedem Bildungsbericht
"Soziale Disparitäten als bekanntes, anhaltendes Strukturproblem
Die Frage der sozialen Selektivität bleibt nach wie vor aktuell. Seit längerer Zeit ist dieser Befund unbestritten, hinreichend belegt und bleibt als eine der dringlichsten Herausforderungen bestehen.
Dass es dem Bildungssystem in Deutschland trotz beträchtlicher Bemühungen in Bildungspraxis und Bildungspolitik auch bei erkennbaren Fortschritten noch nicht gelungen ist, den engen Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg nachhaltig aufzubrechen, verweist erneut auf den besonderen Handlungsbedarf, der es erforderlich macht, Lösungsansätze über die verschiedenen Bildungsbereiche hinweg zu konzipieren. [...]
Wie bei der Studienentscheidung wirkt sich auch beim Übergang ins Masterstudium die soziale Herkunft aus.[...]" [Quelle: "Wichtige Ergebnisse im Überblick"]
_________________________________
Die soziale Herkunft als Verdikt und Urteilsspruch
"Dass es dem
Bildungssystem in Deutschland trotz beträchtlicher Bemühungen in
Bildungspraxis und Bildungspolitik auch bei erkennbaren Fortschritten
noch nicht gelungen ist, den engen Zusammenhang zwischen sozialer
Herkunft und Bildungserfolg nachhaltig aufzubrechen, [...] verweist erneut auf
den besonderen Handlungsbedarf, der es erforderlich macht,
Lösungsansätze über die verschiedenen Bildungsbereiche hinweg zu
konzipieren."
Im Bildungsbericht 2016 hört sich diese Tatsache harmlos an.
In der Literatur und in den Schilderungen von Lebensentwürfen hört sich "der rohe Berg statistischer Daten" aus den Bildungsberichten sehr spannend an, zum Beispiel in dem Buch:
„Rückkehr nach Reims“
Didier Eribon sein Autor, kommt aus einer Arbeiterfamilie, aufgewachsen ohne kulturelles Kapital.
In
Deutschland gibt es eine große Begeisterung für Ihr Buch. Sie schreiben
über Ihren persönlichen Werdegang – ein Kind einer Arbeiterfamilie, das
aufgestiegen ist zu einem der wichtigsten Intellektuellen in Frankreich.
Ist es ein Buch in der Tradition des Soziologen Pierre Bourdieu? (>>> Interview)
Ein Auzug aus seinem Buch:
Gegen die Ideologie der »persönlichen Leistung« zwingt uns Wideman, der Tatsache ins Auge zu sehen, dass die unbestreitbar und sogar zahlreich auftretenden Fälle, in denen es jemandem gelingt, seinem »statistischen« Schicksal zu entkommen und die erschreckende Logik der Zahlen außer Kraft zu setzen, mitnichten die soziologische Wahrheit dieses Schicksals und dieser Logik aufheben. [John Edgar Wideman,
Fanon, New York: Houghton Mifflin, 2008]
Wie Wideman, der seine Wahrnehmung der Welt trotz der vernünftigen Einwände seiner Mutter nicht aufgeben will, kann ich nicht anders, als im Schulsystem, wie es vor unser aller Augen funktioniert, eine Höllenmaschine zu sehen, die, wenn auch vielleicht nicht ausdrücklich mit diesem Ziel programmiert, faktisch dafür sorgt, dass Kinder aus armen Schichten abgewertet werden, dass ungleiche Berufschancen und beschränkte soziale Zugangsmöglichkeiten fortbestehen, dass eine bestimmte Form der Klassenherrschaft intakt bleibt und weiterhin als legitim gilt.
Ein Krieg ist im Gange gegen die Beherrschten, und die Schule ist einer ihrer Schauplätze. Die Lehrer tun gewiss ihr Bestes. Aber der Macht der sozialen Ordnung, die ihre Wirkung auf verborgene und zugleich offensichtliche Weise entfaltet und die sich gegen alles und jeden durchzusetzen vermag, haben sie nichts, oder nur sehr wenig, entgegenzusetzen.
Die in diesen Vierteln regelmäßig aufflammenden Aufstände sind das spontane Kondensat einer Vielzahl fragmentierter Konflikte, deren Grollen nicht enden wird. Ich bin versucht hinzuzufügen, dass sich auch andere statistische Kennzahlen wie etwa jene zur Benachteiligung »bildungsferner« Schichten im Schulsystem kaum anders als im Sinne der Kriegsthese interpretieren lassen.
Ich weiß, dass ich in den Augen vieler in die Nähe der Verschwörungstheoretiker rücke, wenn ich den staatlichen Institutionen solche subkutanen Funktionen — oder gar Intentionen — unterstelle. Genau das hat Bourdieu
[1] Althusser
[2] vorgeworfen, dessen Begriff der »ideologischen Staatsapparate« im Sinne einer »Funktionalität zum Schlechteren« argumentiere.
»Ein Apparat«, schreibt Bourdieu, »ist eine für bestimmte Zwecke programmierte Höllenmaschine.« Und er fügt die Behauptung hinzu, dass »durch das ganze >kritische< Denken« ein »Phantasma von der Verschwörung [geistert], die Idee, dass ein dämonischer Wille hinter allem steckt, was in der sozialen Welt geschieht«. Wahrscheinlich hat Bourdieu recht.
Natürlich bleibt Althussers Begriff einer überkommenen marxistischen Dramaturgie (oder Logomachie) verhaftet, in der sich verabsolutierte Entitäten in einer schematischen Eindeutigkeit bekämpfen, die man sonst nur im klassischen Theater (oder aus der Scholastik) kennt. Einige von Bourdieus Formulierungen nähern sich allerdings genau den Positionen an, die er selbst so vehement zurückweist.
- Vielleicht nicht im Hinblick auf irgendwelche versteckten und aufzudeckenden »Intentionen«,
- aber doch im Hinblick auf die »objektiven Ergebnisse«, um die es Bourdieu ja eigentlich zu tun gewesen ist.
- So fragt er zum Beispiel, »was die wirkliche Funktion eines Bildungssystems ist, das funktioniert, indem es während der Schulzeit die Kinder der Volks-und im geringeren Ausmaß der Mittelklassen aus der Schule eliminiert«.30
- Die »wirkliche Funktion«! Evident und unleugbar.