Dienstag, 19. Februar 2013

Sitzen bleiben


Jede/r kennt wahrscheinlich diese Karikatur:


Oder die Variante:




Es gibt allerdings auch KolumnistInnen, die es irgendwie trotzdem noch nicht verstanden haben.


So schreibt Frau Schmoll in der FAZ:
Es ist übrigens auch gerecht, dass Schulen jedem Schüler, gleich welcher Herkunft, gleich welcher Begabung, das gleiche Angebot machen und ihm die Möglichkeit geben, sich an überindividuellen Standards zu messen. Alles andere wäre Betrug an den Schülern und am Wesen der Schule selbst. Es hieße nämlich, die unterschiedlichen Neigungen und Interessen von Kindern zu leugnen und sie zu nivellieren.

Na prima.


Schule ist seit eh und je in dem Dilemma:
  • Will ich
    die SchülerInnen fördern, so dass jede/r sein eigenes Potenzial entfalten kann, seinen Weg finden kann, im Leben den Platz finden kann, der seinen Begabungen entspricht, auf dass er glücklich werde und der Gesellschaft mit seinen Begabungen Nutzen bringen kann?

Man kann das auch biblisch betrachten (1. Korinther 12):

Wenn alles nur ein einzelner Teil wäre, wo bliebe da der Leib? Aber nun gibt es viele Teile, und alle gehören zu dem einen Leib. Das Auge kann nicht zur Hand sagen: »Ich brauche dich nicht!« Und der Kopf kann nicht zu den Füßen sagen: »Ich brauche euch nicht!« Gerade die Teile des Körpers, die schwächer scheinen, sind besonders wichtig.

Die Teile, die als unansehnlich gelten, kleiden wir mit besonderer Sorgfalt und die unanständigen mit besonderem Anstand.
Die edleren Teile haben das nicht nötig. Gott hat unseren Körper zu einem Ganzen zusammengefügt und hat dafür gesorgt, dass die geringeren Teile besonders geehrt werden.
Denn er wollte, dass es keine Uneinigkeit im Körper gibt, sondern jeder Teil sich um den anderen kümmert.
Wenn irgendein Teil des Körpers leidet, leiden alle anderen mit. Und wenn irgendein Teil geehrt wird, freuen sich alle anderen mit.

  • Oder
    betrachte ich die Schule als Selektions-Einrichtung: Die "Guten" ins Töpfchen (versetzen) - die "Schlechten" in Kröpfchen (sitzen bleiben > Schule verlassen > schau, wo du bleibst! ) ? 
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Frau Schmoll (nach eigenen Angaben Hebraicum 1980, Abitur 1981, Graecum 1982, 1989 Eintritt in die Nachrichtenredaktion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. 2002 Verleihung der theologischen Ehrendoktorwürde in Tübingen - wie kann Letzteres sein, siehe oben 1. Kor.12 ?) schreibt:

Das Mantra, das seit neuestem alle Schulprobleme bekämpfen soll, ist die individuelle Förderung. Abgesehen davon, dass kein Lehrer weiß, wie er solche Einzelbeglückung dreißig Schülern unterschiedlichster Leistungsstufen in der knapp bemessenen Unterrichtszeit angedeihen lassen soll, bleibt sie Utopie, solange sie nicht finanzierbar ist.

Ihr Anliegen (kleinere Klassen, bessere Ausstattung der Schulen in allen Ehren!), doch vielleicht sollte sie, statt nur Killerparolen auszugeben, sich doch mal etwas näher mit der aktuellen Pädagogik beschäftigen. Es gibt durchaus Konzepte zur "Einzelbeglückung"... 


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"Es ist ein Halbsatz im Koalitionsvertrag, der eine aufgeregte Schuldebatte ausgelöst hat: Die neue rot-grüne Landesregierung in Hannover wolle, "Sitzenbleiben und Abschulung durch individuelle Förderung überflüssig machen", heißt es dort. Die künftige Schulministerin Frauke Heiligenstadt (SPD) bemühte sich gleich, den ihr unterstellten Ehrgeiz zu relativieren: "Wir haben ein perspektivisches Ziel formuliert, das nicht von heute auf morgen umgesetzt werden kann."
...

Glaubt man dem Bildungsökonomen Klaus Klemm, sind die Länder damit auf dem richtigen Weg. Das Sitzenbleiben, so Klemms Berechnung von 2009, koste jährlich eine Milliarde Euro - und bringe nichts: Die meisten Untersuchungen zeigten, dass Sitzenbleiber ihren Rückstand kaum aufholen. Das Geld sei besser in individuelle Förderung angelegt.

In der Pisa-Studie 2009 gaben 21 Prozent der 15-Jährigen an, bereits eine Klasse wiederholt zu haben. Jedes Jahr bleiben etwa 2 Prozent aller Schüler sitzen. Der Trend ist jedoch rückläufig: Im Jahr 2000 lag der Anteil noch bei rund 3 Prozent.
Allerdings unterscheiden sich die Werte stark nach Bundesland und Schulform. Bayern lässt jedes Jahr mehr als 3 Prozent der Schüler eine Klasse wiederholen, in Brandenburg sind es nur etwas mehr als 1 Prozent. Den höchsten Sitzenbleiberanteil gibt es mit 4,3 Prozent an den Realschulen - was auch daran liegen dürfte, dass herunterwechselnde Gymnasiasten bisweilen die Klasse auf der neuen Schule wiederholen.
Der Verzicht auf das Sitzenbleiben ist, anders als etwa Spiegel-Online-Kolumnist Jan Fleischhauer meint, kein Geschenk an das Bildungsbürgertum. Unter den Sitzenbleibern sind laut Nationalem Bildungsbericht Migranten und Schüler aus niedrigen Sozialschichten überrepräsentiert.
"

Dass das Sitzenbleiben pro Jahr 1 Milliarde Euro kostet, 
sollte kein Argument gegen das Sitzenbleiben sein. Deutschland gibt sowieso nicht übermäßig viel für Bildung aus. - 

Die Wiederholung einer Klasse kann in Einzelfällen auch durchaus sinnvoll sein (z.B. wenn das Kind längere Zeit krank war, in der Entwicklung zurück geblieben ist, zu früh eingeschult wurde, wegen Belastungen in der Familie nicht genügend Zeit und Energie für die Schule hatte...). - Förderung, Beratung ist der bessere Weg.

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2 Kommentare:

  1. Leider ist die Replik auf den hervorragenden Kommentar von Heike Schmoll rein ideologisch...
    Pure Sozialromantik.

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    1. Der Vorwurf einer durch Ideologie bestimmten Argumentation findet sich häufig im politischen Diskurs. Damit wird unterstellt, dass ein Standpunkt deswegen nicht stichhaltig sei, weil er auf einer politischen Ideologie basiere. Der eigene Standpunkt wird demgegenüber implizit oder explizit so dargestellt, dass er auf einer nüchternen Analyse der Wahrheit, dem gesunden Menschenverstand, oder auf einer nicht in Frage zu stellende Ethik beruhen würde. Dies trifft auf den Kommentar von "Fußballer" zu. Dies könnte indes die jeweilige Gegenseite in vielen Fällen mit dem gleichen Recht für sich in Anspruch nehmen. [wikipedia]

      Unausgesprochene Ideologeme (einzelne Elemente einer Ideologie) beherrschen oft die politische Debatte, ohne dass dies in der Diskussion immer bewusst wird. Das unausgesprochene Ideologem im obigen Kommentar heißt: a) Schule muss der Selektion dienen. b) Sitzenbleiben ist ein geeignetes Instrument zur gewünschten Selektion.

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      Politik, insbesondere auch Schul-Politik, ist immer mit Ideologie verbunden, eine unideologische, rein technokratische Politik ist realitätsfremd. Politische Programme basieren auf bestimmten Wertesystemen.

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      Ideologiekritik geht von einer verblendeten Wahrnehmung der (gesellschaftlichen) Realität aus. Indem Ideologiekritik diese unterstellte Verblendung aufzudecken versucht, möchte sie den Zugang zu den wirklichen Verhältnissen freilegen.

      Bei der Analyse der Struktur von Ideologien wird unter anderem untersucht:
      Die innere Widerspruchsfreiheit, das Vorhandensein von Zirkelargumenten und Fehlschlüssen;
      der Anteil von wahren oder falschen Tatsachenbehauptungen sowie von Werturteilen;
      das Vorhandensein von Euphemismen und Identifikationsformeln, Suggestivdefinitionen, Feindbildern und Diffamierungsstrategien.
      [wikipedia]

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      Wenn man die Kolumne von Frau Schmoll ideologiekritisch nach den o.g. Kriterien anschaut, so fällt auf, dass sie z.B. in sich nicht kohärent und widerspruchsfrei ist (unterschiedliche Begabungen mit einem einheitlichen Maßstab testen) und zudem mit polemischen Suggestivargumenten arbeitet (was natürlich dazu verlockt, ebenso zu antworten selbst wenn man weiß, dass das nicht wirklich weiter führt).

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      Übrigens:
      Der Begriff Ideologie wurde 1796 von dem französischen Philosophen Antoine Louis Claude Destutt de Tracy geprägt. Er diente als Bezeichnung für das Projekt einer einheitlichen Wissenschaft (!) der Vorstellungen und Wahrnehmungen. Die französischen „Ideen-Forscher“ wollten damit das "Projekt der Aufklärung" voranbringen. Verwandt mit dieser "Ideen-Lehre" der Franzosen ist der britische Empirismus. Der Empirismus wurde von Francis Bacon (1561–1626) begründet, der in seiner Idolenlehre die Reinigung des Denkens von Idolen (Trugbildern) als Voraussetzung von Wissenschaft sieht. Quellen dieser Trugbilder können Tradition, Sprache, Herkunft und Sozialisation sein. [wikipedia]

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