Freitag, 6. Januar 2012

"In der Gemeinschaftsschule lernen alle gemeinsam weniger!"

... So der aktuelle Kommentar eines Lehrers zur Schulreform in Baden-Württemberg.

Dazu ein empirisches Ergebnis aus unserem Ländle. (Das Wort "Gesamtschule" ist zwar in Baden-Württemberg traditionell ziemlich tabu. Da es aber bei uns noch keine Gemeinschaftsschulen gibt, ziehe ich die Integrierten Gesamtschule Mannheim-Herzogenried als Beispiel heran, da es dort seit einigen Jahren gemeinsames Lernen bis Klasse 7 gibt:

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Siehe dazu auch: 

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Die Integrierte Gesamtschule in Mannheim litt bis in die 1990er Jahre unter dem (schlechten) Ruf einer „Schule im sozialen Brennpunkt“. Fast 70 % der Schüler/innen gehörten der sog. sozialen Unterschicht an. Eltern aus dem Bildungsbürgertum schickten ihre Kinder nur im Notfall dorthin, d.h. wenn sie keine Grundschulempfehlung für das Gymnasium hatten. Sobald sie in Klasse 7 die Empfehlung für das Gymnasium geschafft hatten, wurden die Kinder abgemeldet und in das nächste Gymnasium geschickt. -

Integrierter Unterricht aber mit nur etwa 10 % Schüler/innen mit Grundschul-Empfehlung Gymnasium ist schwer. Der Anteil der Schüler/innen mit einer Hauptschulempfehlung lag bei der Anmeldung in der Regel weit über 50 Prozent. Der sehr gute Leistungsbereich (Noten 1,0-1,3) fehlte bei den aufgenommenen Schüler/innen vollständig, vorherrschend war mit über 50 Prozent der Bereich zwischen den Noten 3 und 4.

Trotz der ungünstigen Verhältnisse schaffte es die Schule aber schon 1986, einem Großteil ihrer Schüler/innen zu besseren Abschlüssen zu verhelfen als die Empfehlung der Grundschule es prognostiziert hatte. Verstärkt durch den G8-Effekt (die Schule hatte als einzige Schule in BW noch G9!), nähert sich allmählich der Anteil der Grundschul-Empfehlungen für die drei Schularten dem Verhältnis 1:1:1. (Der Anteil für das Gymnasium lag 2011 bei etwa 25 Prozent.) Das verbessert die Lehr- und Lernbedingungen an der Schule insgesamt spürbar.


Statistisch gesehen hatten in den Schuljahren 2002/03 bis 2007/08 über die Hälfte AbiturientInnen an der Gesamtschule Mannheim keine Grundschul-Empfehlung für das Gymnasium:

  • 12 Prozent der AbiturientInnen (des in BW zentralen Abiturs) hatten eine Empfehlung für die Hauptschule und
  • 43 Prozent der AbiturientInnen für die Realschule.
  • Und bei den Schüler/innen, die am Ende den Realschul-Abschluss machten, hatten 53 Prozent eine Hauptschul-Empfehlung.

Schon in Klasse 8 zeigt sich die positive Wirkung des gemeinsamen Lernens in den drei Eingangsjahren Klasse 5-7:

  • Jede/r zweite Schüler/in in den Gymnasialklassen der Stufe 8 hatte keine Gymnasialempfehlung.
  • Ähnlich in den Realschulklassen: Etwa 45 Prozent der Schüler/innen hatte eine Grundschul-Empfehlung für die Hauptschule.

Dass der Weg der Schüler/innen in der Integrierten Gesamtschule Mannheim-Herzogenried insgesamt deutlich nach oben weist, zeigt auch die Statistik der Auf- und Absteiger:

  • 37 % der Schüler/innen verbessern sich gegenüber der Grundschul-Empfehlung, 
  • nur 8 % verschlechtern sich, 
  • etwa 50 % machen Abschlüsse der Grundschul-Empfehlung entsprechend. 

In der 3-gliedrigen Regelschule in BW steigen für jeden Schüler/innen, der aufsteigt, fast vier ab. Die viel gepriesene Durchlässigkeit funktioniert dort also nur nach unten gut.


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So weit der empirische Befund aus Baden-Württemberg. 
Was sagt uns der? 
Für Kinder mit einer Grundschul-Empfehlung für die Hauptschule oder für die Realschule war es empfehlenswert, dieser nicht zu folgen, sondern in Klasse 5 auf diese Gesamtschule zu gehen, um dort in den Klassen 5-7 gemeinsam zu lernen: Denn in über 50% der Fälle machten diese Kinder auf der Gesamtschule das baden-württembergische Zentral-Abitur. (Kinder, die eine Grundschul-Empfehlung für das Gymnasium hatten, haben sich dadurch offenbar nicht verschlechtert. Die Zahlen liegen mir aber nicht vor.) 


Trotzdem bleiben die Fragen: 
  • Warum will eine Mehrheit der Eltern (zumindest in Hamburg) ihre Kinder nicht gemeinsam mit Kindern der Haupt- und Realschulen lernen lassen?
  • Warum soll ich mein Kind mit der Grundschul-Empfehlung "Gymnasium"  auf eine Gemeinschafts-Schule schicken?
  • Warum sollte ich als Oberstudienrätin mit Akademiker-Kindern mich für ein ein-gliedriges Schulsystem engagieren, also z.B. gemeinsames Lernen bis Klasse 10 in einer Gemeinschaftsschule (oder auch im Gymnasium)?

Klassen-Kampf? -  "Seit Jahren zeichnen Politik und Medien das Bild einer Unterschicht mit asozialen Ansichten und Verhaltensweisen, der nur durch Zwang und Bevormundung beizukommen ist" (ZEIT-online), durch scheinbar objektive Grundschul-Empfehlungen und eine Aufteilung der SchülerInnen nach Klasse 4 in drei "Klassen".

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