Sonntag, 19. Februar 2012

Individualisiert lernen & individualisert leiden?

Nicht nur im Unterricht geht der Trend zur Individualisierung.

Neulich sah ich einen etwas älteren Film über das Ende des islamischen Fastenmonats Ramadan in Tunesien. Am Ende feiert man das Fest des Fastenbrechens, in der Türkei auch Zuckerfest genannt, weil es - wie bei uns zu Weihnachten - viel süßes Backwerk gibt, das in der Familie selber gebacken wird. -  Nur war in diesem Film das Backen noch nicht komplett individualisiert, weil viele Familien - wie auch anderswo in der Welt - schlicht und einfach noch keinen eigenen Backofen zuhause haben. So bereitet man zwar das Backwerk zwar zuhause zu, dann bringen aber die Kinder die Kuchenbleche zum Bäcker im Stadtviertel, der die Backbleche der Familien gesammelt in seinen großen Backofen schiebt. Kooperatives Backen. - Wir in Deutschland backen inzwischen in der Regel individualisiert: Jede Familie in ihrem eigenen Herd.

Wenn Sie älter sind erinnern Sie sich vielleicht noch an die Einführung der Telefone,  als man anfangs zum Nachbarn gehen musste, um zu telefonieren, weil noch nicht jeder ein eigenes Telefon im Hause hatte; oder an die Einführung des Fernsehers, als manche Kinder hoffen mussten, vom Nachbarn eingeladen zu werden, um "Fury" und "Lassie" zu schauen, weil das Fernsehen noch nicht individualisiert war wie heute, wo in manchen Familien jedes Kind sein eigenes TV-Gerät und seinen eigenen PC im Kinderzimmer stehen hat. - Individualisiert Fernsehen. Und vielleicht erinnern Sie sich auch noch an Flüge, wo irgendwann das Licht ausging, eine Projektions-Fläche im Flieger herunter gelassen wurde und dann alle Passagiere zur gleichen Zeit den gleichen Film ansehen konnten. Vielleicht auch noch alle in derselben Sprache.  - Heute hat jeder seinen eigenen kleinen Monitor im Flugzeug, an dem er sein Programm individuell & alleine anschauen kann. Oder muss?

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Was ist „Individualisierung“ im Unterricht?

Individuelle Förderung stellt die Kinder und Jugendliche als lernende 
persönlichkeiten im Bildungsprozess in den Mittelpunkt schulischer, insbesondere pädagogischer, fachlicher wie didaktischer Überlegungen. Ziel ist es, sie entsprechend ihrer (Lern-) Ausgangslagen so zu fördern, dass sie ihre Begabungen, Fähigkeiten und Kompetenzen bestmöglich entfalten und somit den bestmöglichen Bildungserfolg erzielen können. Das bedeutet nicht, dass jedes Kind und jeder Jugendliche einzeln unterrichtet wird oder für jeden sein individuelles Material erstellt wird:

Individuell fördern geschieht, indem Lernsituationen geschaffen werden, in denen die Schüler und Schülerinnen ihre Kompetenzen und ihr Wissen im Bildungsprozess aktiv entwickeln können, Verantwortung für ihren Lernprozess übernehmen und ihren Lernfortschritt erkennen und reflektieren lernen. Standards oder vergleichbare Zielformulierungen sind dabei eine Orientierung für alle Schüler und Schülerinnen – sie müssen aber nicht von allen zur gleichen Zeit und auf dem gleichen Weg erreicht werden.

Arbeitsdefinition Höhmann aus den Projektdiskursen Kompetenzanalyse AC und Bertelsmann „Individualisieren"

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Individualisiert lernen & Individualisiert leiden ? 


Jeder leidet für sich allein
Der Philosoph Byung-Chul Han geht dem Zusammenhang von Gewalt und Moderne auf den Grund

...Unter dem Titel "Müdigkeitsgesellschaft" beschrieb er, welche gesellschaftlichen Folgen die Ablösung des Nicht-Dürfens vom Alles-Können hat. Der Druck, ständig alles zu wissen und zu können, führe zu dem wahnhaften Versuch, sich durch grenzenlose Selbstausbeutung ständig selbst zu verwirklichen, und verursache den "Infarkt der Seele". 
... In der Freiheit, stets und ständig alles tun und zugleich aber auch alles lassen zu können, identifiziert Han die moderne Gewalt, die er als eine "Gewalt der Positivität" beschreibt. Sie steht der Gewalt der Negativität, der Einschränkung und Begrenzung, wie sie die archaischen und vormodernen Gesellschaften geprägt hat, konträr gegenüber. ... seien die negativen Einschränkungen von außen von der positiven Eröffnung aller denkbaren Möglichkeiten abgelöst worden.

Ist dies nicht zu begrüßen? Ermöglicht nicht erst die Befreiung des Individuums aus dem Zwangskorsett der Gewalt die Individualisierung und Selbstbestimmung, die die modernen Gesellschaften innovativ, bunt und lebendig macht? Ganz falsch ist diese Annahme nicht,

... sie führt jedoch zu dem Missverständnis, Gewalt könne einfach verschwinden. Sie löst sich aber nicht auf, sondern ändert ihre Gestalt. Unter dem Bann der Leistung artet die Freiheit in einen Zwang aus. 
Herrschte im industriellen Zeitalter noch das Prinzip der Fremdausbeutung, die ein natürliches Ende hatte, ist die postindustrielle Gesellschaft von der grenzenlosen Selbstausbeutung geprägt. Jeder "konkurriert letzten Endes mit sich selbst und sucht sich selbst zu überbieten."

In einer solchen Welt wird das Ego zur Ware, wie allerorten zu beobachten. Unser Leben steht bei Facebook & Co. im Schaufenster, zur Bewertung freigegeben. 
Quelle: taz 31.10.11
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Vergleiche auch in diesem Blog den Post: 


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