Mittwoch, 22. Februar 2012

Sytemisch-Konstruktivistische Pädagogik. (K)Ein Klassiker

Auf der Rückseite eines Buches aus dem Beltz-Verlag lese ich:

"Nicht zuletzt dank dieses »Klassikers« hat sich der systemisch-konstruktivistische Ansatz der Pädagogik etabliert. Das Buch bietet die grundlegende Darstellung einer kulturell und sozial orientierten Erziehungstheorie - und Praxis. So hilft es auch, die vielfach beklagte Kluft zwischen Theorie und Praxis zu überwinden."

So weit  der Werbe-Block. - 
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von Kersten Reich mag in der Wissenschaft ein "Klassiker" sein, trotzdem ist es "Hartes Holz", nicht leicht zu lesen; [vielleicht gibt es ja einen us-amerikanischen Autor zum gleichen Thema? - Das Buch wäre sicher leichter zu lesen.  ;-) ] - Für Hinweise bin ich dankbar.

Daran mag es vielleicht auch liegen, dass die systemisch-konstruktivistische Didaktik zwar zum Zeitgeist und/oder Goldstandard und/ oder aktuell-gültigem-Irrtum der Pädagogik gehört, doch bis in die Praxis noch nicht überall durchgedrungen ist.
Wenn ich Fortbildungen für LehrerInnen mache, die z.T. selber an Versuchsschulen arbeiten, so geben sie oft zu, dass sie wohl schon einmal davon gehört haben, aber nicht wirklich viel damit anfangen können.

Das hat (mindestens) zwei Gründe: 
  1. Die aktuellen Versuchsschulen in BW sind meistens schlicht eine Zusammenlegung von Haupt- und Realschulen zur Gemeinschaftsschule. 
  2. Warum sollte eine der etwa 90.000 LehrerInnen in BW sich über systemisch-konstruktivistische Pädagogik informieren? - Sie würden es tun, wenn sie das Gefühl hätten, dass ein Buch zum Thema eine spannende Lektüre ist und hilfreich und not-wendig für die tägliche Praxis.
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Dabei ist die systemisch-konstruktivistische Pädagogik wirklich hilfreich für den Alltag und die tägliche Unterrichtsvorbereitung. Ein schönes Beispiel findet man in dem Buch "Beziehungs-Didaktik" von Reinhold Miller, das ich eher empfehlen würde als das oben genannte, wenn man sich ein Buch zum Thema kaufen möchte.  Auf den Seiten 51ff geht Miller auf konstruktivistische und systemische Sichtweisen ein:

Konstruktivistische und systemische Sichtweisen sind für eine Beziehungsdi­daktik von großer Bedeutung, weil diese sich mit Wahrnehmung, Beobachtung, Wirklichkeitskonstruktionen, Erkenntnismöglichkeiten und mit psychischen (Individuen) und sozialen Systemen (Gruppen) befasst.

Ein Erstklässler malt in der Schule einen See ganz grün.  
Auf die Frage der Lehrerin, warum er ihn denn nicht blau malen würde, antwortete er: »Weil da, wo ich in den Ferien war, da war der See ganz grün.«

Ein Kollegium streitet sich über den neuen Schulleiter.  
Die einen sagen, dass er zu dominant sei, die anderen sind froh, endlich wieder eine starke Hand zu haben. Notizen aus Protokollen von Kollegiumssitzungen: »Da muss ich Ihnen heftig wider­sprechen.« »So können Sie das nicht sagen.« »Das ist ja ein völliger Quatsch, den du da erzählst.« »Ganz falsch, wie du das siehst.«

Die einen sehen die Welt »grün«, die anderen »blau«; die einen erleben einen Menschen »dominant«, die anderen »stark«; die einen denken so, die anderen ganz anders.

Es gibt nicht die Wirklichkeit und die (eine) Wahrheit, sondern jeder von uns konstruiert sich seine eigene Wirklichkeit. Erkenntnis ist subjekt-gebunden und »objektiv« unmöglich: »Da draußen«, also außerhalb von uns, so schreibt v. Foerster, »gibt es keine Klänge und Musik, keine Wärme und Kälte, auch keine Farben und keinen Schmerz, also keine Qualitäten, sondern nur Quantitäten wie Druckwellen, elektromagnetische Wellen und tanzende Moleküle« (zitiert nach Fuhr/Gremmler-Fuhr 1995, S. 32).
Wir erzeugen also unsere Welt selbst, wodurch eine Vielzahl unterschiedli­cher Wirklichkeiten entsteht.

»Und diese Wirklichkeiten können nicht mehr ... auf einen einzigen Nenner gebracht oder fundamentalistisch an der Wirklichkeit - die es eben gerade nicht gibt - bemessen werden. Von nun an muß man sich auf die Inkommensurabilität von Wirklichkeiten einlassen« (Welsch 1992, S. 49).
Allerdings kann aus den unterschiedlichen Wahrnehmungen eine gemeinsam konstruierte Wahrheit werden…

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Und wie man das macht,  
wie SchülerInnen mit Hilfe der LehrerInnen (neudeutsch: "LernbegleiterInnen") gemeinsam ihre Wahrheit, ihre Welt in der Schule konstruieren müssen, das ist der (nicht wirklich) neue Gesichtspunkt, auf den die aktuelle Pädagogik derzeit besonders hinweist, Wert legt, den Finger legt... - 

Und das hat auch einen guten Grund, 
denn die Schülerschaft wird sowohl in den Realschulen als auch in den Gymnasien immer heterogener, vielfältiger (auch dann, wenn sich der Philologenverband weiterhin tapfer bemühen wird, die Dämme flächendeckend aufrecht zu erhalten für eine ersehnte Insel der Seligen. - Welche Lehrkraft, in welcher Schulart auch immer, hätte sie nicht gerne, die Insel der Seligen in seinem täglichen Unterricht? Das wäre prima; aber der Weg über die Errichtung von Dämmen ist nicht hilfreich und falsch, weil z.B.  unmoralisch.)

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"Bulimie-Lernen"  
wird es wahrscheinlich weiterhin geben und vielleicht auch - für bestimmte Situationen - geben müssen; manchmal macht das Sinn. - 

Meistens versteht man unter Bulimie-Lernen, dass ein Schüler den Stoff für eine Prüfung in sich hinein- "frisst" und dann bei der Klassenarbeit wieder in sein Test-Heft aus-"kotzt". - Zum Bulimie-Lernen gehört aber auch, dass die Lehrkraft zu hause - und in guter Absicht und manchmal mit viel Arbeit verbunden ! -  versucht, das Wissen für ihre SchülerInnen schon vorzukauen, um ihnen dann im Unterricht das Vorgekaute mundgerecht eintrichtern zu können. Am Rande: Nicht nur SchülerInnen sind (neudeutsch) Lernende, auch LehrerInnen sind Lernende.

Der Konstruktivismus will uns erklären, warum diese Art der Unterrichtsvorbereitung oft vergebliche Liebesmühe ist (siehe oben: Meine Welt als LehrerIn ist nicht identisch mit der meiner 32 Schülerwelten...) und er lässt und Wege finden (ganz alte und vielleicht auch ganz neue), das Lernen effektiver zu machen und gleichzeitig dem Burn-Out der Lehrkräfte vorzubeugen. 

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