"Eine Universität müsse mehr leisten als Ausbildung, nämlich Bildung, sagte Hippler." - Und eine Schule?
Zitat: SPIEGEL ONLINE
(Horst Hippler, Physiker, 65 Jahre alt, wurde im April 2012 zum Sprecher der Hochschul-Rektoren-Konferenz gewählt.)
(Horst Hippler, Physiker, 65 Jahre alt, wurde im April 2012 zum Sprecher der Hochschul-Rektoren-Konferenz gewählt.)
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"Bildung ist
die wache, kenntnisreiche und kritische Aneignung von Kultur. "
Drei Vorlesungen, 5. Auflage 2012 |
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Schon lange tobt die Diskussion Kompetenzraster versus Bildung&Wissen. Oder auch: Müssen die SchülerInnen nur Kompetenzen, Fähigkeiten, Fertigkeiten erwerben und/oder auch Inhalte? Gibt es einen Wissenskanon und/oder nur einen Kompetenzkanon?
ist ein Buch von Dietrich
Schwanitz aus dem Jahr 1999. Es bietet einen Streifzug durch Geschichte,
Literatur, Philosophie, Kunst und Musik und stellt dar, was nach der Meinung
des Autors zum Bildungskanon in Deutschland gehören sollte. Des Weiteren
enthält das Buch Anregungen, wie man im Bereich der Bildung selbst vorankommen
kann.
Die Gesellschaft für Bildung und Wissen kämpft gegen Kompetenzraster. Kurz gesagt: Die SchülerInnen sollen nach Ansicht der Gesellschaft nicht nur Kompetenzen erlernen und in den Bildungsplänen sollen nicht nur Kompetenzen formuliert sein, sondern es muss auch um Inhalte gehen. Man soll, vereinfacht ausgedrückt, nicht nur ein Buch "lesen können" (Kompetenz: "Ich kann XYZ"), es kommt auch darauf an, was die SchülerInnen lesen sollen, warum gerade das usw.
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In seiner dritten Vorlesung im o.g. Buch führt der Philosoph Peter Bieri genauer aus, was er unter "Bildung" versteht und wie man Bildung erwirbt:
- Bildung besteht darin, einen Schritt hinter die begriffliche Routine zurückzutreten und sich auf einer zweiten Stufe der Aneignung zu fragen, wovon wir da eigentlich reden.
- Bildung ist die wache, kenntnisreiche und kritische Aneignung von Kultur.
- Sich bilden - das ist wie aufwachen.
- Fremdsprachen lernen - das wird heute oft so dargestellt, als ginge es vor allem darum, sich einen Vorteil zu verschaffen, was Job, Business, Ansehen und Geld betrifft. Fremde Sprachen, fremde Märkte.- Doch es kann viel mehr sein ...
Bildung ist auch für Bieri mehr als Ausbildung.
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(Was Bieri exemplarisch über die Aneignung der Sprache sagt, lässt sich übertragen auf andere Bildungs-Inhalte, so kann man in dem folgenden Text das Wort "Sprache" auch probeweise durch "Bildungs-Inhalte" ersetzen ):
» Bildung ist dieser Prozess der Aneignung, in dem sich jemand eine kulturelle Identität schafft.
» Bildung ist dieser Prozess der Aneignung, in dem sich jemand eine kulturelle Identität schafft.
Man kann
an diesem Prozess verschiedene Stufen unterscheiden, und die folgenden
Überlegungen sind ein Nachdenken über diese Stufen.
Der Schlüssel
zu allem: Sprache. Die
grundlegende Fähigkeit, die uns zu Kulturwesen macht, ist die Sprache.
Die erste
Stufe der Aneignung
ist das Erlernen der Muttersprache durch Nachplappern, ein
Prozess der Gewöhnung und Konditionierung, man könnte auch sagen: des
Abrichtens. Ich wachse in die Sprache hinein, indem ich durch Belohnung und
Korrektur zu einem unauffälligen Benutzer ihrer Wörter werde. Ich lerne die
Regeln durch blindes Befolgen. Am Ende ist meine sprachliche Identität diejenige
eines Sprechers, der ohne Nachzudenken sein Können abruft.
Das ändert
sich auf einer zweiten Stufe der Aneignung.
Hier geht es um eine ausdrückliche
Beschäftigung mit dem, was vorher nur als blinde Gewohnheit, als blindes Können
da war: Ich lerne die Grammatik meiner Sprache kennen und erwerbe eine bewusste
Kenntnis ihrer Regeln. Dazu kommen eine Erweiterung des Wortschatzes, die
Entdeckung von Synonymen und das Besprechen von Angemessenheit und
Unangemessenheit der Worte in den vielfältigen Kontexten des Lebens. Jetzt bin
ich jemand, der nicht nur in der Sprache, sondern auch über sie sprechen kann.
Die dritte Stufe der
Aneignung.
Dazu gehört ein Verständnis davon, wie sich meine Sprache
entwickelt hat. Bildung ist immer auch historisches Bewusstsein. Ich möchte
wissen, wie eine Zeitung, ein Manifest, eine Werbung oder eine Erzählung in
vergangenen Zeiten geklungen haben und was dazu geführt hat, dass sie heute
anders klingen.
Diese Art von Verstehen vertieft sich, wenn ich beginne, meine Sprache im Vergleich mit anderen Sprachen zu betrachten - auch ganz fremden Sprachen, in denen es weder Konjugation noch Deklination gibt, wo die Zeit ganz anders dargestellt wird und die Bedeutung mit der Tonlage variiert. Das ist die vierte Stufe der Aneignung.
Diese Art von Verstehen vertieft sich, wenn ich beginne, meine Sprache im Vergleich mit anderen Sprachen zu betrachten - auch ganz fremden Sprachen, in denen es weder Konjugation noch Deklination gibt, wo die Zeit ganz anders dargestellt wird und die Bedeutung mit der Tonlage variiert. Das ist die vierte Stufe der Aneignung.
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Fremdsprachen lernen - das wird heute oft so dargestellt, als ginge es vor allem darum, sich einen Vorteil zu verschaffen, was Job, Business, Ansehen und Geld betrifft. Fremde Sprachen, fremde Märkte.
Doch es kann
viel mehr sein:
Ich kann an der Fremdheit der Sprache auch die Fremdheit eines anderen Geistes kennenlernen: sehen und verstehen lernen, dass es auch andere Kategorien als die meinen gibt, andere Beschreibungen von Verhalten und Institutionen, andere Arten, das eigene und fremde Erleben zur Sprache zu bringen. Und um noch etwas Wichtiges geht es: Ich lerne andere Melodien des Lebens kennen. ...
Ich kann an der Fremdheit der Sprache auch die Fremdheit eines anderen Geistes kennenlernen: sehen und verstehen lernen, dass es auch andere Kategorien als die meinen gibt, andere Beschreibungen von Verhalten und Institutionen, andere Arten, das eigene und fremde Erleben zur Sprache zu bringen. Und um noch etwas Wichtiges geht es: Ich lerne andere Melodien des Lebens kennen. ...
Andere
Kategorien des Denkens und andere Melodien des Lebens kennenlernen - das
bringt eine Einsicht mit sich, die entscheidend für Bildung im gewichtigen
Sinne des Wortes ist: Meine sprachliche und gedankliche Identität, in die ich
mit dem Erlernen der Muttersprache hineingewachsen bin, besitzt keine
Notwendigkeit; sie ist historisch und geographisch zufällig und hätte auch
anders sein können. Kulturelle Identität ist etwas Kontingentes [etwas Zufälliges] , zu dem es
immer auch Alternativen gibt. Bildung ist die Einsicht in diese Kontingenz [in diese Zufälligkeit]. Sie
bewahrt vor Überheblichkeit, Dogmatismus und dem trotzigen Aufstampfen
angesichts des Fremden. Hier liegt der Ursprung von echter Toleranz im
Unterschied zu flüchtigen, opportunistischen Lippenbekenntnissen.
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Eine letzte
Stute der Aneignung
besteht darin, sich in Anerkennung der Kontingenz [der Zufälligkeit] und im
Wissen um sprachliche Alternativen bewusst für eine Sprache zu entscheiden und
sich mit ihr zu identifizieren. ... Es geht um den höchsten Grad
an sprachlicher [und jeglicher anderen] Bildung: die Entwicklung einer eigenen Stimme im Rahmen der
gewählten Sprache.
…
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Bildung
besteht dann darin, einen Schritt hinter die begriffliche Routine zurückzutreten
und sich auf einer zweiten Stufe der Aneignung zu fragen, wovon wir da
eigentlich reden. Es geschieht, was für Bildung typisch ist: Vertrautes wird
verfremdet, um es später, wenn es transparenter geworden ist, erneut zu etwas
Eigenem, Vertrautem zu machen. Platon führt uns diesen Prozess in seinen
Dialogen stets von neuem vor Augen.
Wissen - was ist das eigentlich?, fragt Sokrates. Was unterscheidet es von bloßer Meinung? Und Wahrheit: Was können wir darunter verstehen? In welchem Sinn macht die Welt unsere Meinungen wahr oder falsch? Und warum überhaupt ist Wahrheit wichtig?
... Wir haben gelernt, einen Kassensturz des Wissens und Verstehens zu
machen: Was für Belege habe ich für meine Überzeugungen? Sind sie verläßlich?
Und belegen sie wirklich, was sie zu belegen scheinen? Wie verläßlich sind die
Prinzipien, mit denen man von den Belegen zu den Behauptungen kommt, die über
sie hinausgehen? Was sind gültige Schlüsse und was Fehlschlüsse? Was sind gute
Argumente, und was ist trügerische Sophisterei? Was unterscheidet eine echte
Erklärung von einer Scheinerklärung? Es ist der logische Raum solcher Fragen,
der unser Verständnis von Vernunft definiert, und ein solches Verständnis ist
ein zentrales Element in der kulturellen Identität einer Gemeinschaft.
…
Wir sind in
diesem schwierigen Prozess der Bildung, der ein Leben lang dauert, nicht
allein. Eine Kultur ist auch ein Raum von Erzählungen, Dramen, Mythen und Märchen,
von Metaphern, Witzen und literarischen Topoi, von Filmszenen, Bildern und
Statuen, von photographischen Ikonen, Opernarien und Straßenliedern. Um
herauszufinden, wer wir sind und was uns wichtig ist, können wir uns in den
Elementen des kulturellen Raums spiegeln, wir können uns mit dem, was es darin
gibt, identifizieren oder uns dagegen abgrenzen.
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Auf die
Erwähnung dieser Dinge haben wir schon lange gewartet, werden Sie vielleicht
denken - warum kommt das erst jetzt, warum war davon nicht von Anfang an die
Rede?
Die Antwort lautet: Weil es mir wichtig ist, zwischen bloß gekannter Kultur auf der einen Seite und einer gelebten kulturellen Identität auf der anderen zu unterscheiden. Die beiden Dinge werden oft genug verwechselt.
Man kann einen kulturellen Raum kennen, sich darin sogar sehr genau auskennen, ohne dass das Bekannte die eigene Identität formt und bestimmt. Ich kann die Dramen, Romane, Filme und Lieder eines Landes oder einer Zeit sehr genau kennen und kann viele erhellende Dinge darüber sagen - und doch kann es sein, dass sie meiner Art zu leben äußerlich bleiben.
Sie sind dann Inhalte meines Wissens und meiner Gelehrsamkeit, aber damit noch nicht Bestandteile meiner Bildung.
Dafür genügt
auch nicht, dass ich in einer Situation die passenden Dinge aus dem kulturellen
Repertoire zitieren und damit zeigen kann, dass ich sie auch im Sinne des
situativen Verstehens anzuwenden verstehe.
Und nach dem
hier entwickelten Verständnis von Bildung genügt es nicht einmal, dass ich mit
den Texten, den Bildern und der Musik ganz für mich allein lebe, so dass sich
der Verdacht des Demonstrativen oder Angeberischen erübrigt.
Die Topoi
einer Kultur tragen erst dann zu echter Bildung bei, wenn sie in der Aneignung
all der Dinge, von denen ich früher gesprochen habe, eine bestimmende Rolle
spielen.
Erst wenn
meine eigene Sprache durch das Lesen von Literatur reicher, differenzierter und
selbständiger wird, ist etwas im Sinne der Bildung mit mir geschehen. Erst
wenn meine Beschäftigung mit Traktaten über Vernunft sich in der Organisation
des eigenen Denkens und Tuns niederschlägt, war die Lektüre wirklich eine
Bildungserfahrung. Erst wenn die Beschäftigung mit dem Blick der Anderen auf
der Bühne und im Film dazu führt, dass meine eigenen Empfindungen von Privatheit,
Intimität und Scham klarere Konturen erhalten, habe ich als Zuschauer etwas für
meine Bildung getan.
Ich kann in einem kulturellen Raum viel über Selbstbestimmung, Würde und moralische Erfahrung hören und lesen; wenn das nicht dazu führt, dass sich das Verständnis und die Erfahrung dieser Dinge auch in mir -selbst spürbar verändern, bin ich trotz reicher Kenntnisse noch nicht bei einem Bildungsprozess angekommen. Und ähnlich ist es mit den religiösen Elementen einer Kultur: Sie zu kennen, reicht nicht; es geht darum, sich an ihnen zu reiben und im Sinne einer inneren Stellungnahme auch hier eine eigene Stimme zu entwickeln.
Ich kann in einem kulturellen Raum viel über Selbstbestimmung, Würde und moralische Erfahrung hören und lesen; wenn das nicht dazu führt, dass sich das Verständnis und die Erfahrung dieser Dinge auch in mir -selbst spürbar verändern, bin ich trotz reicher Kenntnisse noch nicht bei einem Bildungsprozess angekommen. Und ähnlich ist es mit den religiösen Elementen einer Kultur: Sie zu kennen, reicht nicht; es geht darum, sich an ihnen zu reiben und im Sinne einer inneren Stellungnahme auch hier eine eigene Stimme zu entwickeln.
Sich bilden -
das ist wie aufwachen.
Das kulturelle Gewebe, von dem ich zu Beginn sprach,
stößt uns am Anfang des Lebens nur zu, es wirkt auf uns ein und prägt uns, ohne
dass wir uns dagegen wehren können. Wir bewegen uns darin wie Schlafwandler: unauffällig
und zielsicher, aber ohne gedankliche und emotionale Plastizität, ohne
reflektierende Distanz und ohne Sinn für Alternativen.
Wenn wir dann die Stufen
oder Phasen der Aneignung durchlaufen, die ich beschrieben habe, werden wir
immer wacher: Wir lernen, über die Grammatik der zunächst blinden Kultur zu
sprechen, sie in größeren Zusammenhängen zu verstehen und als eine unter
mehreren Möglichkeiten zu betrachten.
Je größer Transparenz und Übersicht
werden, desto größer wird die innere Freiheit, aus dem Schatten blinder
Prägungen herauszutreten und sich zu fragen, wer man sein möchte. Dieser
Prozess der Bildung und des Erwachens ist nie abgeschlossen.... «
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Frage:
- Was tragen diese Gedanken zur Lösung des Streits um Kompetenzraster, Bildung und Wissen bei?
- Welche Konsequenzen ergäben oder ergeben sich daraus, für die aktuelle Schulreform bei uns in Baden-Württemberg und anderswo.
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