Sonntag, 26. Mai 2013

Richard David Precht, die Schule, der liebe Gott, Neuanfang, Gefährdung und Scheitern



Ende April 2013 gab es ein Interview mit Richard David Precht (*1964) in der ZEIT, in dem dieser erklärt, warum er glaubt, dass die deutschen Schulen zu den schlechtesten der Welt gehören -  und natürlich wie er sie verändern will. 

Das Interessanteste an dem Interview sind allerdings nicht unbedingt die Antworten des Philosophen, sondern die Fragen der beiden Redakteure, Thomas Kerstan & Martin Spiewak: 
"Geht’s nicht eine Nummer kleiner? / Ganz so schlecht können unsere Schulen nicht sein. / Wie viel Faktenwissen bei den Schülern hängen bleibt, ist doch kein Kriterium für Erfolg. / Man bekommt eher das Gefühl, dass Sie die Zahlen und Argumente so zusammenstellen, dass sie zu Ihrem Katastrophenbefund passen. / Wo ist die Evidenz, dass die von Ihnen propagierte Schule besser ist?" 

Precht sagt: 
"... möchte ich mit meinem Buch eine Bewegung anstoßen, die zu einem grundsätzlichen Strukturumbruch in der Schule führt. Das ist das Revolutionäre."

O.k.: Seine Kritik am Schulwesen ist nicht ganz neu (siehe unten, John Holt) und auch nicht soooo revolutionär - manchmal sind es nur Gemeinplätze.  Doch irgendwie müssen auch jüngere Philosophen ihr Geld verdienen, und da darf es schon mal etwas reißerisch sein. -  Sein Buch ist eine schöne und populäre Zusammenstellung von aktueller Schulkritik.
  • Etwa dass die Schüler an einem Tag fünf oder sechs verschiedene Fächer haben, die nichts miteinander zu tun haben.
  • Oder dass sie pausenlos Tests und Klausuren schreiben und anschließend das meiste von dem Gelernten wieder vergessen dürfen.
  • "Ich glaube, dass das, was unsere Kinder in der Schule lernen, und das, was sie im Leben brauchen, stärker als jemals zuvor auseinanderfallen."
  • Es kann doch nicht sein, dass wir mehr als neunzig Prozent von dem, was wir in der Schule lernen, wenige Jahre später vergessen haben. - Oder wissen Sie noch, was das Ohmsche Gesetz ist oder der Ablativus absolutus?
  • Seit Bekanntwerden der Pisa-Studie ist die Zahl der Kinder, die in Privatschulen gehen, rasant gestiegen. Wenn das so weitergeht, werden zumindest in der Mittelschicht irgendwann mehr Kinder auf private als auf öffentliche Schulen gehen.
  • Ich glaube nicht, dass man den Bildungsstand einer Nation in einem zweistündigen (PISA-) Test messen kann.
  • Sozialdaten belegen nun einmal eine sehr hohe Abhängigkeit des Schulerfolgs in Deutschland vom Elternhaus.
  • ... gibt es, wie Sie wissen, sehr unterschiedliche Schulstudien, die oft zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen.
  • Unser Schulsystem atmet bis heute den Geist des 19. Jahrhunderts, als nicht Individualität wichtig war, sondern es darauf ankam, dass in einem bestimmten Zeitraum alle das Gleiche zu lernen hatten. Ich nenne es das Fabrikmodell.
  • Wir haben weiterhin ein gegliedertes Schulwesen; die Schule organisiert sich nach Fächern und Jahrgangsklassen; der Unterricht findet im 45-Minuten-Takt statt.
  • Viele Schulen nennen sich Ganztagsschule. Dabei sind sie in Wirklichkeit nur Halbtagsschulen mit Nachmittagsbetreuung.
  • Es gibt integrative Gesamtschulen für alle Kinder; doch sie ergänzen nur das alte dreigliedrige Schulsystem. Die Systemfehler – die Selektion, das uniforme Lernen mit Fächern, die Benotung von Leistung mit Ziffern – bestehen weiter.
  • Ich glaube, das liegt daran, dass das klassische Unterrichtsmodell sich viel zu wenig die Frage stellt, ob die Schüler in dem, was sie da vorgesetzt bekommen, einen Sinn sehen. Warum auch sollte sich ein 13-Jähriger – von Ausnahmen abgesehen – für eine 
    physikalische Formel interessieren?  

"Wir müssen wieder utopiefähig werden im Hinblick auf die Schule", sagt Richard David Precht, und das sieht dann z.B. so aus:



  • Die Schule muss – nachdem die Grundlagen gelegt sind – sehr viel stärker in Projekten unterrichten.
  • Da liest man mit dem Deutschlehrer den Faust, der Geschichtslehrer erläutert die Situation im damaligen Deutschland, und der Chemielehrer berichtet über alchimistische Versuche und macht dazu Experimente mit Eisen und Schwefel – und die Schauspielbegeisterten proben im Anschluss eine Szene aus dem Stück. 
  • Um Mathe zu lernen, braucht man keine Klassengemeinschaft. Es gibt mittlerweile so gute und spannende Lernprogramme, die Schüler individuell und auf eine spielerische Art durch den Stoff leiten.  
  • LehrerInnen können sich beim individualisierten Lernen in Mathematik als Lerncoaches den einzelnen Schülern sehr viel besser widmen als heute. 
  • Deutsch muss man ab der sechsten oder siebten Klasse nicht mehr als Fach unterrichten.
  • Konzepte wie jenes der Jenaplan-Schule mit ihrem jahrgangsübergreifenden Unterricht oder den Leistungsberichten statt der Zensurenzeugnisse. 
  • Hentig wird als Begründer der Idee erwähnt, in der achten Klasse den Unterricht durch ein sogenanntes Abenteuerjahr zu ersetzen. 
  • Lehrer müssen von Anfang an im Team arbeiten.   
  • Sie müssen lernen, den Unterrichtsstoff in Projekten und nicht mehr in Fächern zu vermitteln und Schüler individuell zu begleiten.
  • Finnland ist ein Beispiel dafür, dass ein Land sein Schulsystem innerhalb von zehn Jahren radikal umbauen kann. 
  • Abschaffung des Beamtenstatus für Lehrer. 
  • Beschneidung des Bildungsföderalismus. 
  • LehrerInnen sollen alle vier Jahre auf ein halbjähriges Sabbatical schicken, damit sie neue Erfahrungen machen, etwa bei den Ureinwohnern in Australien. 
  • Eines aber ist gewiss: Dieses Land ist reich genug, dass es sich ein besseres Schulsystem leisten kann.
Nun ja, es kommt drauf an, wofür eine Regierung unser Geld ausgibt...
s.a.: 
 
Kollege von Richard David Precht:
John Holt, New York 1964, :"How children fail".
John Caldwell Holt
(* 14. April 1923; † 19. September 1985)
war ein US-amerikanischer Autor und Pädagoge. Er veröffentlichte mehrere Bücher über selbstbestimmtes Lernen und Kinderrechte und gab die Zeitschrift Growing Without Schooling heraus. [wikipedia]


Ein jungerLehrer ist des staatlichen Schulbetriebs überdrüssig,
schart eine Gruppe Gleichgesinnter um sich ((Der Blogger war dabei...) und gründet eine Alternativschule: die Freie Schule Essen - das war 1974ff. 
Jahrelang arbeitet er in ihr, verlässt sie schließlich,
wird Gründungsrektor einer kirchlichen multikulturellen Gesamtschule...




Ivan Illich (1926-2002). Das Buch erschien 1971.
"Ja! Corruptio optimi quae est pessima" [Die Verderbnis des Besten ist das Schlimmste].

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