Man hört, dass in den Tübinger Schul-Aulen Gelehrte heftig agitieren:
»Die „neue Lernkultur“ in Baden-Württemberg ist totalitär und Ausfluss eines ökonomistischen Denkens im Bildungswesen: So die Botschaft eines Symposions, zu dem die fünf Tübinger Gymnasien und das Seminar für Lehrerbildung eingeladen hatten.«
Ist das so?
Fast alle Leserbrief-SchreiberInnen unterstützten später diese Botschaft des Symposions - (was aber auch daran gelegen haben mag, dass GegnerInnen dieser Thesen gar nicht erst eingeladen waren) - warum auch immer.
Oberflächlich betrachtet geht es vielleicht nur um einen lokalen oder regionalen Streit:
Gymnasium gegen Gemeinschaftsschule,
altbewährte Bildung gegen Neu-Sprech und modische pädagogische Experimente aus der Schweiz (Peter Fratton, Andreas Müller) oder um einen
persönlichen Streit zwischen SchulleiterInnen verschiedener Schularten, die ihre Felle und SchülerInnen davon schwimmen sehen, oder um einen Streit
rot-grüne Regierungpolitik in BW gegen schwarz-gelbe Opposition. - Mag ja alles sein oder nicht sein. Doch der Horizont ist weiter und die Wurzel tiefer.
Im Jahr 1982 erschien - wie es der Teufel so will - in Tübingen(!) ein Buch von Gary Stanley Becker, (* 1930, us-amerikanischer Ökonom und Wirtschafts(!) - Nobelpreisträger aus dem Jahre1992) in deutscher Sprache:
"Der ökonomische Ansatz zur Erklärung menschlichen Verhaltens".
Becker, Theodore W. Schultz und andere sind Begründer der "
Human-Kapital-Theorie" (für die es dann den Nobelpreis gab). Immerhin. - Kann das dann eine schlechte Theorie sein?
Auf Seite 7 seines o.g. Buches schreibt Becker:
„In der Tat bin ich zu der Auffassung gekommen, daß der ökonomische Ansatz so umfassend ist, daß er auf alles menschliche Verhalten anwendbar ist ...
- seien es wiederkehrende oder seltene Entscheidungen,
- handle es sich um emotionale oder nüchterne Ziele,
- reiche oder arme Menschen,
- Männer oder Frauen,
- Erwachsene oder Kinder,
- kluge oder dumme Menschen,
- Patienten oder Therapeuten,
- Geschäftsleute oder Politiker,
- Lehrer oder Schüler."
Anders gesagt: Eine betriebs-wirtschaftliche Verhaltensweise wird auf alles Lebensbereiche übertragen bzw. für alle Lebensbereiche unterstellt; nicht nur auf die Ökonomie, das Wirtschaftsleben im engeren Sinne, sondern auch auf Familie
„Das besondere Kennzeichen des Humankapitals besteht darin, daß es ein Teil des Menschen ist.
- Es ist human, weil es im Menschen verkörpert ist,
- und Kapital, weil es ein Quelle zukünftiger Befriedigung oder zukünftiger Erträge oder eine Quelle von beidem ist.“
[Theodore William
Schultz, 1902-1998, us-amerikanischer Ökonom und Mitbegründer der Humankapital-Theorie, in: Investment in Human Capital: The Role of Education and of Research, New York 1971, S. 48]
Damit wird alles das, was der Mensch bekommt, als Ertrag bzw. Einkommen auf sein Kapital betrachtet, und alle Veränderungen sind Investitionen zur Vergrößerung des vorhandenen Kapitals — eben des Humankapitals.
Dementsprechend sind Bildung und Erziehung auf der individuellen und auf der gesellschaftlichen Ebene immer als Investitionen in das vorhandene und zu vergrößernde Humankapital anzusehen. Bildung bekommt ihren Wert als Tausch-Wert. Ich erwerbe sie in Familie, Kindergarten und Schule, um sie dann später gegen eine andere "Ware" einzutauschen. Sie hat keinen eigenen Wert, sondern ist ein Tausch-Mittel.
Siehe oder höre auch:
- SWR2 Wissen: Dollarzeichen im Auge. Über die Ökonomisierung der Gesellschaft. Sendung vom Sonntag, 6.10. 2013 | Von Matthias Burchardt
- Institut für Theologie und Politik Münster: So fing es an. Zur Neoliberalisierung des Bildungsbegriffs.
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Die beiden Gelehrten des o.g. Symposions (und andere) sehen es nun so und versuchen das auch in
zahlreichen Aufsätzen und in Büchern zu belegen, dass die sog.
neue Lernkultur ein direkter Abkömmling dieses Human-Kapital-Ansatzes sind.
"Dabei steht die Abkehr von der Inhaltsorientierung in der Schule hin zu einer Kompetenz-und Handlungsorientierung an zentraler Stelle. Verbunden mit ihr hat sich eine neue Sprache herausgebildet, ein Jargon, Begriffe, die nun den Schulalltag überschwemmen und mit Inhalt gefüllt werden müssten: Lerncoach, Lernberater, systemische Notengebung, individuelle Förderung, Portfolio, Selbstorganisation, kooperatives Lernen, Qualifikationen, Kompetenzen, Standards, lebenslanges Lernen ...
Diese „Zauberworte" finden sich in didaktischen Jahresplanungen, Schulprogrammen und Unterrichtsentwürfen von Lehramtsanwärterinnen."
Dadurch fühlen sich nun all die Lehrkräfte angegriffen, die in ihren Schulen neuerdings LernbegleiterInnen an Stelle von LehrerInnen haben, mit Portfolios arbeiten, Kompetenzrastern usw. - Denn keineswegs habe sie das Gefühl, dass sie in der Tradition der neoliberalen Human-Kapital-Theorie stehen - und die meisten haben vielleicht noch nie von Becker, Schultz und dieser Theorie gehört.
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Gegen Gerry S. Becker und seine neo-liberalen Theorien, die auch die Pädagogik als Teil der Ökonomie und Warenwirtschaft ansehen, gab es von Anfang an Widerspruch. Michel Foucault (der französische Philosoph, 1926-1984, kein Nobel-Preis) setzte sich mit dem Neoliberalismus und mit Becker auseinander.Wer daran interessiert ist und an Beckers Antwort an Foucault, kann sich
hier 90 Minuten lang das Video eines Seminars an der Uni von Chikago ansehen.
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Ein paar Jahre älter als Becker (*1930) ist Reinhard Tausch (*1921). - Die Menschenbilder sind diametral entgegengesetzt.
"Das Humane ist uns nicht gegeben, sondern aufgegeben"
Am 8.8.2013 im Alter von 91 Jahren ist Reinhard Tausch gestorben. Er war einer der Großen in der deutschsprachigen Psychologie der Nachkriegsjahre: Reinhard Tausch hat sein Leben vollendet.
Als Ordinarius für Klinische und Pädagogische Psychologie lehrte er an der Universität Hamburg von 1965 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1986, und mit Lehraufträgen und intensiver Doktorandenförderung noch fast bis zuletzt mit 91 Jahren. - Reinhard Tausch war der „Vater“ der Gesprächspsychotherapie (GT) im deutschsprachigen Raum. Die „Gesprächspsychotherapie“ (1. Auflage 1960) war der eine Klassiker. Der andere war die „Erziehungspsychologie“, erstmals 1963 erschienen und ebenfalls zusammen mit seiner Frau Anne-Marie Tausch verfasst.
Nach mehreren Dozenturen u. a. an Pädagogischen Hochschulen erhielt Reinhard Tausch 1965 den Ruf an die Universität Hamburg. Zu diesem Zeitpunkt hatte er die Klientenzentrierte Gesprächstherapie von Carl Rogers bereits „entdeckt“ und war dort angelangt, wo
das wissenschaftliche und das menschliche Anliegen zusammenfinden konnten. Dass das Humane uns nicht gegeben, sondern aufgegeben ist, das ist die Botschaft seines Lebens.
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Link zum E-Book (2013, 288 Seiten) |
Die Resonanz seiner Schüler (ungezählte Diplomandinnen, über 60 Doctores und etwa ein Dutzend Professoren) hat (der ebenfalls in diesem Jahr verstorbene) Inghard Langer in einer Festschrift zum 80. Geburtstag von Reinhard Tausch herausgegeben, unter dem treffenden Titel „
Menschlichkeit und Wissenschaft“, erschienen 2001.
Die Saat war aufgegangen: sowohl seine pädagogisch-therapeutischen Methoden als auch vor allem sein Menschenbild haben in Deutschland einen enormen Einfluss auf die
Gestaltung der Ausbildungsgänge in Klinischer Psychologie, Sozialarbeit, Pädagogik und Pastoralpsychologie ausgeübt. - Das Menschenbild betonte die Eigenwilligkeit des Menschen, zu wachsen und sich wesensgemäß zu entwickeln. Dieses Streben nach Selbstverwirklichung kann eher durch menschliche Qualitäten in der Beziehungsgestaltung gefördert werden (Wertschätzung, Selbstkongruenz und Empathie) als durch professionell geprägte Behandlungsprozeduren.
Quelle: Deutsche Psychologische Gesellschaft für Gesprächspsychotherapie
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Was sagt mir das?
- Möchte ich als Lehrkraft und/oder PädagogIn den ökonomischen Ansatz für die Pädagogik und für LehrerInnen und SchülerInnen übernehmen?
- Sehe ich mich als Lehr-Person (ganz/ teilweise/ gar nicht) als Fördernde/r von Human-Kapital?
- Oder als was sonst?
- Auch wenn ich als Lehrkraft noch nie von Gary S. Becker und Human Capital gehört habe, werde ich ganz sicher mit seinem Weltbild zu tun bekommen oder habe es schon damit zu tun: Zentrale Begriffe der aktuellen Bildungspolitik und "neuen Lernkultur" in BW, in Deutschland (Deutscher Qualifikationsrahmen für lebenslanges Lernen, DQR), in Europa (Europäischer Qualifikationsrahmen, EQR) und global wie z.B. "Lernberater" und "Kompetenz-Orientierung" stammen ursprünglich aus diesem neo-liberalen Denkmodell, in dem der Einzelne [in erster Linie] als Vermarkter seiner selbst auf einem globalen Markt gesehen wird. - (Mehr darüber in der genannten Literatur und auch in anderen Posts dieses Blogs.)
- Siehe auch: Von Liebe und schierem Grauen.
- Es gibt ganz andere Konzepte von Bildung, z.B. das von Johann Amos Comenius, dem Namensgeber zahlreicher EU-Förderprogramme, aus dem 17. Jahrhundert ("Alle alles ganz zu lehren"); oder das der humanistischen Pädagogik von Carl R. Rogers ("Freedom to learn", "On Becoming a Person"); oder von Paolo Freire ("Bildung als Praxis der Freiheit", "Bildung und Hoffnung"). ...