Donnerstag, 5. Januar 2012

Von Schichten, Geschichte und dem Schulsystem. Teil I: Angst der Mittelschicht


Einen Fortschritt bei uns in Baden-Württemberg


gibt es unter der neuen grün-roten Landesregierung im Schulsystem: Nun können die Gemeinden auf Antrag auch ein 2-gliedriges (statt bisher nur 3-gliedriges) Schulsystem einrichten, das heißt: NEBEN dem Gymnasium - an dem nicht gerüttelt wird - kann auch eine Gemeinschaftsschule eingerichtet werden, die von so genannten Haupt- und RealschülerInnen und sog. GymnasiastInnen gemeinsam besucht wird; (gemeint sind SchülerInnen, die am Ende der Klasse 4 von der Grundschule eine Grundschul-Empfehlung für die Hauptschule oder die Realschule oder das Gymnasium erhalten haben. - Übrigens: Andreas Schleicher, der Koordinator der internationalen PISA-Schulstudien für Deutschland, bekam von der Grundschule nach der 4. Klasse bescheinigt, dass er „ungeeignet fürs Gymnasium“ sei. - Sein Abitur machte er dann später mit 1,0. Anschließend studierte in Deutschland Physik und in Australien Mathematik, spezialisierte sich auf Statistik. …

Begabte SchülerInnen können an dieser Gemeinschaftsschule ggf. auch das Abitur machen, das allerdings dann nach 9 Jahren (“G9“) statt nach 8 Jahren wie am Gymnasium (“G8“). Das muss nicht schlecht sein: Es ist auf jeden Fall ein Fortschritt gegenüber dem rein 3-gliedrigen System.
(Sie kennen vielleicht den alten Witz: „In 17 Ländern auf der Erde gibt es das 3-gliedrige Schulsystem, davon liegen 16 in Deutschland“.) – 
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Bestehen bleibt aber bei uns in BW die Auftrennung der SchülerInnen nach der 4. Klasse in drei bzw. zwei Schularten, die weltweit ziemlich einmalig ist und verbunden mit einer Trennung nach "Klassen", nach sozialen Schichten.

 

Wie kommt das? – Dafür ein Beispiel:

Deutlicher als von Beobachtern erwartet, hatten sich die Bürger im Stadt-Staat Hamburg im Sommer 2010
beim ersten verbindlichen Volksentscheid der Hansestadt gegen die sechsjährige Grundschule ausgesprochen: Eine große Mehrheit der Bürger folgte dem Vorschlag der Reform-Gegner, die die vierjährigen Grundschulen beibehalten wollen. Hierfür stimmten 276.304 Bürger, nur 218.065 sprachen sich für sechsjährige Primarschulen aus. Die Wahlbeteiligung  lag bei 39 Prozent.

Wenn Historiker eines Tages unsere Zeit untersuchen werden, wird das Ergebnis eine wertvolle Quelle sein. Das Votum bedeutet nicht nur das vorläufige Aus für das längere gemeinsame Lernen. Die Reformgegener, so schrieb ZEIT-Online zu Recht, zehrten von der latenten Furcht vor lernschwachen, gewaltbereiten Kindern aus sozial schwachen Elternhäusern.

»Sie schürten die Angst, der Mittelschicht könne ein Refugium zivilisierter Erziehung verloren gehen. Das begann schon beim Duktus der Kampagne. "Wir wollen lernen" lautete der Schlachtruf der Reformgegner. Als wollten das andere Kinder nicht genauso.

Diese Angstmacherei hat wohl verfangen. Überraschend ist das nicht. Seit Jahren zeichnen Politik und Medien das Bild einer Unterschicht mit asozialen Ansichten und Verhaltensweisen, der nur durch Zwang und Bevormundung beizukommen ist. Die darüber Beheimateten verlieren an Selbstgewissheit: Der Jobverlust ist heute nicht mehr nur eine temporäre Unannehmlichkeit, sondern ein Weg zu Hartz IV. … Wir sind auf dem Weg zurück in Zeiten, in denen nicht Leistung galt, sondern Herkunft. Wer das nicht glaubt, soll junge Migranten auf ihre Erfahrungen mit Bewerbungen ansprechen. Soll junge, gebildete Großstadtbewohner fragen, ob sie ihr Kind in den geliebten Stadtteilen Berlin-Neukölln oder Hamburg-St.Pauli zur Schule schicken werden.


Das ist nicht nur ein volkswirtschaftliches Problem, weil vielen klugen Menschen qua Geburt der Aufstieg verwehrt bleibt. Sondern auch ein politisches. Denn wie können wir Loyalität zu Demokratie, Grundgesetz und Marktwirtschaft erwarten, wenn die Gesellschaft ihr Versprechen nicht einhält, sie böte jedem eine Chance? «
Die Angst
 der Mittelschicht, ihnen könne mit dem längeren gemeinsamen Lernen über Klasse 4 hinaus  - (sei es durch eine verlängerte Grundschulzeit oder gar durch eine flächendeckende Abschaffung des Gymnasiums) - "ein Refugium zivilisierter Erziehung verloren gehen", herrscht nicht nur bei Eltern, sie wird auch von manchen GymnasiallehrerInnen und ihren Standesverbänden geteilt.
Ein Studienrat sagte mir jüngst: "Mir geht es um meine begabten, sensiblen Schüler. Ich habe selbst jetzt noch in Klasse 12 Schüler, die wie Neuntklässler ausschauen und sehr verletzlich sind. Diese finden bei uns am Gymnasium aber die Ruhe, um ohne Drangsalierungen von pubertären Alphatieren ihre Neigungen entfalten zu können. Aus ihnen werden Studenten der Physik usw." -

Das Bild/ der Wunsch: Im Gymnasium haben wir die sensiblen, lernwilligen, begabten Kinder, die später Physik studieren. In der Realschule (Hauptschule, Gesamtschule, Gemeinschaftsschule, Stadtteilschule....) befinden sich die pubertären Alphatiere: die Kinder der "Unterschicht mit asozialen Ansichten und Verhaltensweisen". Wenn wir denen die Türen öffnen, dann ist es mit dem Schonraum Gymnasium für unsere Kinder und für uns als GymnasiallehrerInnen vorbei. 

Ängste muss man Ernst nehmen,
  • auch wenn "das" Gymnasium schon lange kein Schonraum mehr ist, 
  • auch wenn das Bild, das von "den" SchülerInnen auf anderen Schularten phantasiert und gezeichnet wird, unterirdisch falsch ist,
  • auch wenn man den Standesdünkel der Standesverbände a-sozial findet und nicht gutheißen mag
  • auch wenn die meisten (?) Lehrkräfte an den Gymnasien wirklich keinen Standesdünkel mehr haben - man würde diesen mit der Unterstellung Unrecht tun - aber vielleicht einfach Angst davor, nicht genügend ausgebildet zu sein, um so genannte "RealschülerInnen" unterrichten zu können oder mit ihnen "fertig zu werden".

In der Therapie spricht man davon, dass man nicht GEGEN den Widerstand, sondern nur MIT dem Widerstand arbeiten kann. – In der Debatte um ein gutes und gerechtes Schulsystem gilt das Gleiche.- 

Fortsetzung folgt.

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