Donnerstag, 24. Mai 2012

Deregulierung in der Schule. Von Mit-SchülerInnen und Gegen-SchülerInnen


Diese Tage stand ein Interview in der Südwestpresse, das begann so:
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Das Patientenrechtegesetz bringt vielen Kranken keine Vorteile, sagt der Gesundheitsexperte Wolfgang Wodarg. Der Arzt und ehemalige SPD-Bundestagsabgeordnete plädiert für mehr Solidarität.

Stärkt das geplante Patientenrechtegesetz die Rechte der Patienten?
WOLFGANG WODARG: Meiner Ansicht nach ist es ein Zeichen für den Vertrauensschwund in das System. Das Gesetz überträgt die Rechtewahrnehmung jedem Patienten als Einzelperson. Die Solidargemeinschaft passt nicht mehr auf ihn auf.

Existiert diese Solidargemeinschaft nicht mehr?
WODARG: Nein, als Folge der Deregulierung unseres Gesundheitswesens. Früher gab es die Krankenkassen, die als Solidargemeinschaft auf ihre Versicherten aufpassten. Inzwischen gebärden sie sich wie normale Versicherungen, die im Wettbewerb zueinander stehen. Das ist die Schuld der Politiker, sie haben sich einreden lassen, dass es gut ist, wenn man Solidargemeinschaften in den Wettbewerb schickt.

Aber im Gesetzesentwurf "sollen" die Kassen den Patienten helfen.
WODARG: Das reicht nicht aus. Die Kassen haben eigene betriebswirtschaftliche Interessen, sie sind zu egoistischen Organisationen geworden, die ums Überleben kämpfen. Und auch die Patienten müssen sich um sich selber kümmern. Das wird dann positiv dargestellt, man spricht vom "mündigen Patienten". [...]
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Fragen:
  • Gibt es nicht auch einen Vertrauensverlust in die Schulen? 
  • Existiert die Solidargemeinschaft im Bildungsbereich noch?
  • Passt noch jemand auf die SchülerInnen und LehrerInnen auf?
  • Werden Schulen zu egoistischen  Organisationen, die um die "guten" SchülerInnen kämpfen?
  • Werden Eltern zu Egoisten und kämpfen gegen andere Eltern um einen Platz für ihr Kind in einer vermeintlich guten Schule?  (Vergleiche Post: Bildungspanik)
  • Bedeutet die Zunahme des "Individualisierten Unterrichts" in den Schulen nicht (auch) eine "Deregulierung des Unterrichts", indem jeder Schüler und jede Schülerin euphemistisch zur "mündigen SchülerIn"  erklärt wird, die nun für sich selber verantwortlich ist und schauen muss, wie sie (möglichst) zum Abitur kommt mit einer (möglichst) guten Punktzahl im Abitur? Denn ihre MitschülerInnen sind nun nicht mehr Mit-SchülerInnen, sondern Gegen-SchülerInnen - im Kampf um einen gut bezahlten und sicheren Arbeitsplatz in Zeiten der Euro- und Banken- und Wirtschaftskrisen?
  • Und was muss passieren, damit das nicht passiert, wenn man eine solidarische Gesellschaft und eine solidarische Schule haben möchte?
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Ein aktueller Bericht aus dem Schul-System:

Drei Millionen Grundschüler gibt es bundesweit, über 700.000 von ihnen wechseln in diesem Jahr an weiterführende Schulen. Doch es werden immer weniger. Und der Kampf um die „abitauglichen“ Schüler wird härter.
Noch haben die Gymnasien in diesem Wettbewerb die Nase vorn. Im Jahr 2010 gingen in 12 von 16 Bundesländern die meisten Grundschüler noch dorthin. Doch das Gymnasium bekommt Konkurrenz.

Gesamtschulen, wie die Göttinger, sind längst keine Exoten
mehr in einem streng nach Schulformen gegliederten Schulsystem, sondern fester Bestandteil eines Zwei-Säulen-Modells. Alle Bundesländer – außer Bayern – sind dabei, ihre Haupt- und Realschulen zusammenzulegen. Die neuen Kombischulen bieten wie die Gesamtschulen der 70er Jahre verschiedene Abschlüsse unter einem Dach an. Auch das Abitur.

Gerade die einst als „Schulen für alle“ gegründeten Gesamtschulen

werben heute verstärkt um leistungsstarke Schüler und setzen dabei auf Auswahlverfahren, die zuweilen stark an die Elitenrekrutierung in Gymnasien erinnern. Die Spielregeln sind je nach Bundesland verschieden. ... Die Zeiten, in denen Gesamtschulen darauf achteten, dass starke, mittlere und schwächere Schüler zu gleichen Teilen vertreten sind, sind hier wie auch an anderen „Schulen für alle“ längst vorbei. Das beklagen auch andere, wie der Vorsitzende des Gesamtschulverbandes, Lothar Sack: „Gesamtschulen, die anfangen, ihre Schüler nach Leistung auszusortieren, verstoßen gegen ihr eigenes Credo.“ Lothar Sack kritisiert das neue Elitedenken. ...
Den ganzen Artikel lesen Sie HIER. ______________________________________________ 



Mittwoch, 2. Mai 2012

Bildungspanik hier - und Aufstände dort


Panik hier: 

Der Soziologe Heinz Bude, Jg. 1954, Professor an der Uni Kassel, hat ein Buch mit dem Titel  "Bildungspanik" geschrieben:


Er meint damit panische Verhaltensweisen von Eltern, der „nervösen Aufsteigerfraktion der Mittelklassen“, die ihren Kindern die besten Plätze in den besten Schulen sichern wollen, möglichst schon in den besten Kindergärten und Grundschulen. - Angst vor zu vielen ausländischen Kindern in der Klasse, vor LehrerInnen, die den eigenen Kindern vielleicht die Zukunftschancen verbauen. 

Deutschland scheint von der aktuellen Wirtschaftskrise kaum erfasst zu sein, es gibt noch Arbeitsplätze, wenn auch viele prekäre. Fachkräfte fehlen angeblich -  (manche sagen: Es gibt genug Fachkräfte, sie verlangen nur zu viel Geld, und die Wirtschaft möchte lieber per Blue-Card billige ausländische Fachkräfte anheuern, deren Ausbildung von deren Heimatländern bezahlt wurde - aber das ist ein anderes Thema...) -  und da möchten natürlich Eltern auf das Versprechen und die Hoffnung, dass ihre Kinder durch möglichst gute und hohe Bildung einen guten Arbeitsplatz bekommen werden, gut bezahlt und sicher - und nicht prekär. 

Siehe dazu auch:



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Um ihren Kindern die (vermeintlich?) beste Bildung zu geben, nehmen manche Eltern lange Fahrzeiten zur Schule in Kauf und investieren viel Geld in zusätzliche Lernangebote. Nur die beste Schule und Exzellenz-Hochschule scheint gut genug zu sein. Staatliche Schulen, die in Deutschland den größten Anteil an Schulen ausmachen, sind Manchen nicht mehr gut genug. Steigende Anmeldezahlen bei Privatschulen, jede Menge zusätzlicher Unterricht außerhalb des Stundenplans, dazu Bildungsaktivitäten in jeder freien Minute – eine breite Bildungspanik habe die Gesellschaft erfasst, meint Heinz Bude. 

Früher sei in der Regel die nächstliegende Grund- oder weiterführende Schule die richtige gewesen. Heute aber, so Bude, sei das ganz anders: "An jeder Stelle der Bildungskarriere müssen Eltern weitreichende Entscheidungen treffen."

Die Panik, so Bude, komme daher, dass viele Eltern von der Situation und den zu treffenden Entscheidungen überfordert seien; zudem werde diese Panik durch internationale Bildungsvergleiche (PISA und andere) noch verstärkt, bei denen Deutschland nur mittelmäßig abgeschnitten hatte. Die jüngste Untersuchung der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), "Education at a glance", sorgt für weitere Unruhe: Schließlich hat die OECD festgestellt, dass Deutschland bei den Bildungsausgaben nur auf Platz 30 von 36 teilnehmenden Staaten landet. 

In Deutschland wird das Gymnasium zur "Hauptsach-Schule" ("Hauptsache Gymnasium - Hauptsache Abitur"), manche sprechen vom Gymnasium als neuer "Volksschule". - Das muss auch an sich nicht schlecht sein, nur: Auch die Lehrkräfte an den Gymnasien ergreift die Panik, die Angst vor dem Ansturm, Angst vor der Verflachung des Niveaus, Angst davor nicht mehr "unter sich", unter Bildungsbürgern, zu sein.
Dort, wo es in hier BW neuerdings Gemeinschaftsschulen gibt, werden sie nur dann angenommen, wenn eine gymnasiale Oberstufe angeschlossen ist und in der Klasse 5 schon mindestens 30% sog. "Gymnasialkinder" sitzen.
So viel zu dem Buch von Heinz Bude und der Bildungspanik in Deutschland. 
In der überregionalen Presse findet man zahlreiche Kommentare, zum Beispiel hier
 
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Aufstände dort: 


Wolfgang Kraushaar, Jg. 1948, Politikwissenschaftler in Hamburg und Gast-Professor in Peking, hat in diesem Jahr ein Buch veröffentlicht unter dem Titel: "Aufruhr der Ausgebildeten. Vom Arabischen Frühling zur Occupy-Bewegung". 





In Deutschland, wo die Wirtschaft derzeit noch brummt, hoffen die Eltern auf Aufstieg durch Bildung. Heute kam in den Nachrichten:

Zahl der Arbeitslosen sinkt erneut.  Die Zahl der Arbeitslosen ist im April 2012 um 65.000 unter die 3 Millionen Marke gesunken. Die Arbeitslosenquote sinkt damit um 0,2 Punkte auf 7,0 Prozent.

In anderen Ländern Europas wie Griechenland, Spanien, Portugal sind diese Hoffnungen zerstoben. Dort gibt es Aufruhr: M12M in Portugal, "Democracia real ya" in Spanien, Occupy... 

In den arabischen Ländern fegte die Protestbewegung von jungen gut gebildeten Akademikern die Diktaturen hinweg.  
Den Kern der Revolte bildeten - egal ob in Kairo, Madrid, Tunis, New York, Frankfurt oder anderswo, bei uns in Europa und in der Arabellion - so Kraushaar - (neben den Armen) die enttäuschten Kinder des Bürgertums, die studiert haben, nun arbeitslos sind, jobben, ein Praktikum nach dem anderen absolvieren und keine Aussicht auf Besserung sahen oder sehen. 


Bildung - das Aufstiegsversprechen für die Mittelschicht - darauf können die Eltern in Deutschland noch hoffen. Anderswo ist Bildung zum Armutsrisiko geworden: In Marokko, Tunesien und Ägypten ist die Arbeitslosigkeit bei Hochschulabsolventen doppelt so hoch wie im Durchschnitt. 
So wie 1968 macht auch jetzt wieder die gebildete akademische Jugend global mobil.  Aber - so Kraushaar - den 1968er standen noch alle Wege nach oben offen...


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