Donnerstag, 10. Oktober 2013

Wenn Lehrbeauftragte Unfug über "Lernateliers" verbreiten. Auf einem "Symposion".


Neulich fand in einer traditionsreichen deutschen Universätssstadt ein »Symposion “Neue Lernkultur auf dem Prüfstand”« statt. Veranstalter waren fünf Gymnasien der Stadt, darunter das humanistische:

Der altgriechische Ausdruck Symposion (gr.: συμπόσιον sympósĭonum) steht sinngemäß für „gemeinsames, geselliges Trinken“. Aus der Bedeutung für gesellige Treffen hat sich später der Begriff Symposium für wissenschaftliche Konferenzen entwickelt. [Quelle für Text und Bild: wikipedia]

Nun, in der Pause wurde tatsächlich gemeinsam gesellig getrunken, wie es sich für ein griechisches Symposion gehört; aber in der Hauptsache sollte es wohl ein wissenschaftliches Symposium sein.
War es dann auch. -  Teilweise zumindest.

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Der letzte der drei (männlichen) Referenten - Lehrbeauftragter an einem Staatlichen Seminar für Didaktik und Lehrerbildung - referierte über "LernbegleiterInnen" und "Lern-Ateliers".


Genauer gesagt: Er erzählte, was er so darüber gehört und gelesen hatte und wie er sich das Treiben in einem Lern-Atelier so vorstellte; also so ähnlich wie auf einem "Symposion" ;-). -
Gesehen und erlebt hatte er ein Lern-Atelier offensichtlich und offenhörbar noch nicht. (Er hätte allerdings die Möglichkeit gehabt, zuvor z.B. in der gleichen Stadt eins zu besuchen.)

Hänsel und Gretel werden von ihren
LehrerInnen aus dem Klassen-
Zimmer entlassen und stromern
allein gelassen im Walde umher. 
Er stellte es sich ungefähr so vor, dass die Kinder von der LehrerIn, die ja jetzt LernbegleiteIn heißt, ins Lernatelier geschickt werden und dort allein gelassen herumstromern: "Im Lernatelier stromern die Schüler herum."
Und jeder Pädagoge und jede Pädagogin wisse ja, dass besonders die schwachen SchülerInnen sich schwer tun, mit dem eigenständigen Lernen ohne Hilfe. [Was nicht falsch ist.]  - So dass in solch einem Lern-Atelier, wenn überhaupt, nur die sowieso schon guten SchülerInnen vielleicht etwas arbeiten und lernen würden. ...


Unterwegs kommen sie an einem
Lern-Knusper-Atelier vorbei, an dem sie etwas
knuspern und so in die Hände der
bösen Hexe fallen. -
Doch es gibt ein Happy End,
bei dem die böse Hexe verbrannt wird.
Oder so.
Kurzum: Diejenigen, die angeblich mit ihrer Neuen Lerkultur alles besser machen und gerade den schwachen Kindern helfen wollen ["kein Kind zurücklassen"], die schaden gerade diesen Kindern besonders, weil man sie alleine im Lernatelier umherstromern lässt. - So ungefähr war sein Gedankengang. Auf dem Symposion.

Die Wirklichkeit in einem gut geführten Lern-Atelier wird durch diese Darstellung auf den Kopf gestellt.

Ganz kurz gesagt, sieht es in der Praxis oft so aus:
Man mag es nun bedauern oder sich freuen, doch die SchülerInnen verbringen i.d.R. nur 2 Stunden (in einem Hauptfach) pro Tag in diesen Lern-Ateliers. Man mag auch diesen aus der Schweiz importierten newspeak beklagen, denn man könnte das Lernatelier auch Still-Arbeits-Raum nennen oder Raum für individuelles Arbeiten, weil in diesem Raum - wie in einer Bibliothek - nicht mit Anderen geredet werden darf. Dafür gibt es in dem Raum eine Aufsicht, die die stille Arbeit einfordert.  Wenn ein Schüler Hilfe benötigt, kann er ein Zeichen geben, und man wird sich um ihn kümmern. Im Flüsterton. Wie in einem Lesesaal.

Bevor die SchülerInnen also 1x am Tag in die 2-stündige Stillarbeit im "Lern-Atelier" gehen, hatten sie schon - im Klassenverband - eine kurze ziemlich frontale Einführung in die Thematik. Man könnte das Frontal-Unterricht nennen, nennt es aber - neudeutsch - auch oft "Input". Weil der kurz ist.

SchülerInnen,  (beim Herumstromern beobachtet)
Nach diesem Input gehen dann nicht alle Kinder der Klassse, [die neudeutsch/schweizerisch nun oft "Lerngruppe" genannt wird statt "Klasse"], in das Lern-Atelier,
sondern nur die, die leise und individuell arbeiten können und möchten und sich in den Tagen oder Wochen zuvor das Recht dazu erarbeitet haben. Als Nachweis dafür bekommen sie von der LehrerIn einen Sticker, oft "Könner-Button" genannt, mit dem sie sich gegenüber anderen LehrerInnen als befugte BesucherInnen des Lern-Ateliers ausweisen können. Der Button kann auch wieder entzogen werden.

Andere SchülerInnen der Klasse gehen während dieser 2 Stunden vielleicht nicht ins Lernatelier, sondern arbeiten auf dem Flur vor dem Klassenzimmer der Klasse in Partner-Arbeit (dort darf man dann miteinander reden), wieder andere gehen in den Computer-Raum oder in die Schul-Bücherei.

Wer keinen Könner-Button hat, bleibt mit der LehrerIn im Klassenzimmer, die sich nun mit dieser mehr oder weniger kleinen Gruppe intensiv beschäftigen kann: Frontal, fragend-entwickelnd oder ...

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  • Fazit 1: Dieses sog. Lern-Atelier kann in jeder Schulart eine Möglichkeit sein, heterogene Lerngruppen auf eine sehr einfache und geschickte Art zu differenzieren und die schwächeren SchülerInnen in diesen 2 Stunden pro Tag intensiv zu betreuen. 
  • Fazit 2: Wer Referent auf einem Symposium ist, sollte kundig sein in dem, worüber er redet.

Siehe auch:

Sonntag, 6. Oktober 2013

Der Schüler und die Schülerin als Human-Kapital, die OECD, PISA und Ethos

"Humankapital, Bildung, wirtschaftlicher Erfolg, Wachstum. Diese vier Begriffe beherrschen die Bildungsdiskussion etwa seit den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts in zunehmendem Maße." -  Schreibt die Ökonomie- und Philosophie-Professorin Silja Graupe, Kollegin von Jochen Krautz an der Alanus Hochschule.

Entwickungen in der Gesellschaft kommen in den Schulen stets zeitverzögert an, in den Schulen BWs scheint die Diskussion jetzt angekommen zu sein. (Siehe auch den vorigen Post).

Der Ansatz des Human-Kapitals hat seine drei Seiten:


1. Vom Lernenden aus: Ich bin ein unternehmerisches Selbst und muss in mich selber investieren (lernen, zur Schule gehen, einen Abschluss machen > mein Start-Kapital), um damit dann auf den freien Markt des Berufs-Lebens zu gehen und aus dem Anfangs-Kapital -  in Konkurrenz zu meinen Mitmenschen, die ja auch kräftig in sich investiert haben - aus meinem Start-Kapital mehr Kapital zu schlagen: Meine Frau, mein Auto, meine Villa, meine Yacht... - Meine MitschülerInnen sind meine natürlichen KonkurrentInnen im freien Spiel der Markt-Kräfte.

2. Vom Unternehmen aus: Meine Auszubildenden, meine Fachkräfte sind mein Kapital, mit dem ich wuchern kann, um gegen andere Firmen auf dem lokalen Markt oder auch auf dem Weltmarkt zu konkurrieren.

3. Von der Volkswirtschaft aus: "Was den Einzelnen betrifft. so sind die ökonomischen Erträge des Humankapitals - wie z.B. ein höheres Einkommen - zunächst einmal den Kosten gegenüberzustellen, die beim Erwerb dieses Kapitals verursacht wurden. Diese Kosten umfassen die während der Ausbildungszeit entgangenen Einnahmen sowie die durch die Bildung selbst anfallenden Kosten, wie Schul- und Hochschulgebühren usw." "Individuelle Fähigkeiten werden als bloße Form von Kapital angesehen, d.h. wie ein "Produktionsfaktor, der wie ein Spinnrad oder eine Getreidemühle, einen Ertragbringen [kann]."
Quelle: Brian Keeley, Humankapital. Wie Wissen unser Leben bestimmt. OECD Insights 2007.


Daran ist zunächst nichts Verwerfliches,
denn natürlich suche ich als Schüler nach dem Ende meiner Ausbildung einen Arbeitsplatz, mit dem ich mich und/oder die Familie ernähren kann, und als Firma suche ich Arbeitskräfte, die "etwas können", z.B. richtig schreiben und lesen.

Das Problem entsteht erst dann, wenn dieser wirtschaftliche Aspekt zum alleinigen und/oder wichtigsten Aspekt der Bildung wird, zu seinem Heiligen Gral. - Nix mit Ethik, Entfaltung der Persönlichkeit, Mit-Menschlichkeit, Wirtschafts-Ethos und sonstigem Gedöns: Wachstum, Geiz und Geld sind geil. Angebot und Nachfrage beim Bildungs-Kapital werden es schon mit der berühmten unsichtbarer Hand richten...


„In der Tat bin ich zu der Auffassung gekommen, daß der ökonomische Ansatz so umfassend ist, daß er auf alles menschliche Verhalten anwendbar ist ... Geschäftsleute oder Politiker, Lehrer oder Schüler." (Gary S. Becker 1964)

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Schon zwei Jahre nach Erscheinen des wichtigen Buches von Gary S. Becker schreibt die OECD , die auch die PISA-Studien verantwortet:

"Heute versteht es sich von selbst, daß auch das Erziehungswesen in den Komplex der Wirtschaft gehört, daß es genauso notwendig ist, Menschen für die Wirtschaft vorzubereiten wie Sachgüter und Maschinen. Das Erziehungswesen steht nun gleichwertig neben Autobahnen, Stahlwerken und Kunstdüngerfabriken, Wir können nun, ohne zu erröten, und mit gutem ökonomischen Gewissen versichern, daß die Akkumulation von intellektuellem Kapital der Akkumulation von Realkapital an Bedeutung vergleichbar - auf lange Dauer vielleicht sogar überlegen - ist.  Und man hört auch schon von Bankfachleuten, zumindest von den Wagemutigeren, daß die Erziehung und die Entwicklung des menschlichen Fähigkeitsreservoirs ein geeignetes Feld für produktivere Anleihen sein könnte."


Die Bildung der Menschen dient in diesem Welt- und Menschenbild allein dem Wachstum der Volks-Wirtschaft, nicht dem Wachstum der einzelnen Person.

"Demzufolge wird im Basisszenario als konkreter Schwellenwert für unzureichende
Bildung ein Wert von 420 PISA-Punkten verwendet. Dazu benutzen wir einen einfachen Mittelwert der Mathematik- und Naturwissenschaftsergebnisse in PISA 2000 und PISA 2003."

Bildung wird schlicht auf einen Betrag an PISA-Punkten reduziert ...  Zugleich wird Bildungsfortschritt als Erhöhung dieses Betrags definiert. Auf Basis dieser Abstraktionsleistung kann sodann scheinbar zwingend ein Zusammenhang zwischen volkswirtschaftswirtschaflichem Wachstums einerseits und Bildung andererseits postuliert werden. Es soll für die konstante langfristige Wachstumsrate gelten:

(Quelle: Wößmann, Ludger und Mare Piopiunik: Was unzureichende Bildung kostet. Eine
Berechnung der Folgekosten durch entgangenes Wirtschaftswachstum. Gütersloh 2009, S.24 und 30) 
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Alternativen? Siehe auch:
Stiftung Weltethos und Wirtschaft

"Von Anfang an war die Auseinandersetzung mit ökonomischen Fragen zentraler Bestandteil der Weltethos-Thematik. Erste Ergebnisse publiziert Hans Küng 1997 in seinem Buch »Weltethos für Weltpolitik und Weltwirtschaft«.
Mit Wirtschaftsethikern, Unternehmern und anderen Praktikern aus Wirtschaft und Wissenschaft hat die Stiftung Weltethos das Manifest »Weltethos – Konsequenzen für globales Wirtschaften« erarbeitet.
Bedeutsam für die Thematik »Weltethos und Wirtschaft« war das Erscheinen von Hans Küngs Buch »Anständig wirtschaften. Warum Ökonomie Moral braucht« im Herbst 2010. Darin stellt Küng historisch fundierte Fragen an die ethische Qualität von Globalisierung und Marktwirtschaft und plädiert angesichts der Weltwirtschafts- und -finanzkrise für ein Weltethos als ethische Leitlinie einer öko-sozialen Marktwirtschaft."

Siehe:

Samstag, 5. Oktober 2013

Sturm im Bildungs-Glas? Von Michel Foucault, Bildung und wie alles 1982 mit Gary S. Becker in Tübingen schon anfing.

Man hört, dass in den Tübinger Schul-Aulen Gelehrte heftig agitieren:

»Die „neue Lernkultur“ in Baden-Württemberg ist totalitär und Ausfluss eines ökonomistischen Denkens im Bildungswesen: So die Botschaft eines Symposions, zu dem die fünf Tübinger Gymnasien und das Seminar für Lehrerbildung eingeladen hatten.«
Ist das so?
Fast alle Leserbrief-SchreiberInnen unterstützten später diese Botschaft des Symposions - (was aber auch daran gelegen haben mag, dass GegnerInnen dieser Thesen gar nicht erst eingeladen waren) - warum auch immer.

Oberflächlich betrachtet geht es vielleicht nur um einen lokalen oder regionalen Streit:
Gymnasium gegen Gemeinschaftsschule
, altbewährte Bildung gegen Neu-Sprech und modische pädagogische Experimente aus der Schweiz (Peter Fratton, Andreas Müller) oder um einen persönlichen Streit zwischen SchulleiterInnen verschiedener Schularten, die ihre Felle und SchülerInnen davon schwimmen sehen,  oder um einen Streit rot-grüne Regierungpolitik in BW gegen schwarz-gelbe Opposition.  - Mag ja alles sein oder nicht sein. Doch der Horizont ist weiter und die Wurzel tiefer.


Im Jahr 1982 erschien - wie es der Teufel so will - in Tübingen(!) ein Buch von Gary Stanley Becker, (* 1930, us-amerikanischer Ökonom und Wirtschafts(!) - Nobelpreisträger aus dem Jahre1992) in deutscher Sprache:

"Der ökonomische Ansatz zur Erklärung menschlichen Verhaltens". 

Becker, Theodore W. Schultz und andere sind Begründer der "Human-Kapital-Theorie" (für die es dann den Nobelpreis gab). Immerhin. - Kann das dann eine schlechte Theorie sein?


Auf Seite 7 seines o.g. Buches schreibt Becker:
„In der Tat bin ich zu der Auffassung gekommen, daß der ökonomische Ansatz so umfassend ist, daß er auf alles menschliche Verhalten anwendbar ist ...
  • seien es wiederkehrende oder seltene Entscheidungen,
  • handle es sich um emotionale oder nüchterne Ziele,
  • reiche oder arme Menschen,
  • Männer oder Frauen,
  • Erwachsene oder Kinder,
  • kluge oder dumme Menschen,
  • Patienten oder Therapeuten,
  • Geschäftsleute oder Politiker,
  • Lehrer oder Schüler."
Anders gesagt: Eine betriebs-wirtschaftliche Verhaltensweise wird auf alles Lebensbereiche übertragen bzw. für alle Lebensbereiche unterstellt;  nicht nur auf die Ökonomie, das Wirtschaftsleben im engeren Sinne, sondern auch auf Familie

„Das besondere Kennzeichen des Humankapitals besteht darin, daß es ein Teil des Menschen ist.
  • Es ist human, weil es im Menschen verkörpert ist, 
  • und Kapital, weil es ein Quelle zukünftiger Befriedigung oder zukünftiger Erträge oder eine Quelle von beidem ist.“
[Theodore William Schultz, 1902-1998, us-amerikanischer Ökonom und Mitbegründer der Humankapital-Theorie, in:  Investment in Human Capital: The Role of Education and of Research, New York 1971, S. 48] 

Damit wird alles das, was der Mensch bekommt, als Ertrag bzw. Einkommen auf sein Kapital betrachtet, und alle Veränderungen sind Investitionen zur Vergrößerung des vorhandenen Kapitals — eben des Humankapitals.
Dementsprechend sind Bildung und Erziehung auf der individuellen und auf der gesellschaftlichen Ebene immer als Investitionen in das vorhandene und zu vergrößernde Humankapital anzusehen. Bildung bekommt ihren Wert als Tausch-Wert. Ich erwerbe sie in Familie, Kindergarten und Schule, um sie dann später gegen eine andere "Ware" einzutauschen. Sie hat keinen eigenen Wert, sondern ist ein Tausch-Mittel. 

Siehe oder  höre auch: 
  • SWR2 Wissen: Dollarzeichen im Auge. Über die Ökonomisierung der Gesellschaft. Sendung vom Sonntag, 6.10. 2013 | Von Matthias Burchardt
  • Institut für Theologie und Politik Münster: So fing es an. Zur Neoliberalisierung des  Bildungsbegriffs.

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Die beiden Gelehrten des o.g. Symposions (und andere) sehen es nun so und versuchen das auch in zahlreichen Aufsätzen und in Büchern zu belegen, dass die sog. neue Lernkultur ein direkter Abkömmling dieses Human-Kapital-Ansatzes sind.

"Dabei steht die Abkehr von der Inhaltsorientierung in der Schule hin zu einer Kompetenz-und Handlungsorientierung an zentraler Stelle. Verbunden mit ihr hat sich eine neue Sprache herausgebildet, ein Jargon, Begriffe, die nun den Schulalltag überschwemmen und mit Inhalt gefüllt werden müssten: Lerncoach, Lernberater, systemische Notengebung, individuelle Förderung, Portfolio, Selbstorganisation, kooperatives Lernen, Qualifikationen, Kompetenzen, Standards, lebenslanges Lernen ...
Diese „Zauberworte" finden sich in didaktischen Jahresplanungen, Schulprogrammen und Unterrichtsentwürfen von Lehramtsanwärterinnen."
Dadurch fühlen sich nun all die Lehrkräfte angegriffen, die in ihren Schulen neuerdings LernbegleiterInnen an Stelle von LehrerInnen haben, mit Portfolios arbeiten, Kompetenzrastern usw. - Denn keineswegs habe sie das Gefühl, dass sie in der Tradition der neoliberalen Human-Kapital-Theorie stehen -  und die meisten haben vielleicht noch nie von Becker, Schultz und dieser Theorie gehört.

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Gegen Gerry S. Becker und seine neo-liberalen Theorien, die auch die Pädagogik als Teil der Ökonomie und Warenwirtschaft ansehen, gab es von Anfang an Widerspruch. Michel Foucault (der französische Philosoph, 1926-1984, kein Nobel-Preis) setzte sich mit dem Neoliberalismus und mit Becker auseinander.Wer daran interessiert ist und an Beckers Antwort an Foucault, kann sich hier 90 Minuten lang das Video eines Seminars an der Uni von Chikago ansehen.
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Ein paar Jahre älter als Becker (*1930) ist Reinhard Tausch (*1921).  - Die Menschenbilder sind diametral entgegengesetzt.
"Das Humane ist uns nicht gegeben, sondern aufgegeben"

Am 8.8.2013 im Alter von 91 Jahren ist Reinhard Tausch gestorben. Er war einer der Großen in der deutschsprachigen Psychologie der Nachkriegsjahre: Reinhard Tausch hat sein Leben vollendet.
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Als Ordinarius für Klinische und Pädagogische Psychologie lehrte er an der Universität Hamburg von 1965 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1986, und mit Lehraufträgen und intensiver Doktorandenförderung noch fast bis zuletzt mit 91 Jahren.  - Reinhard Tausch war der „Vater“ der Gesprächspsychotherapie (GT) im deutschsprachigen Raum. Die „Gesprächspsychotherapie“ (1. Auflage 1960) war der eine Klassiker. Der andere war die „Erziehungspsychologie“, erstmals 1963 erschienen und ebenfalls zusammen mit seiner Frau Anne-Marie Tausch verfasst.

Nach mehreren Dozenturen u. a. an Pädagogischen Hochschulen erhielt Reinhard Tausch 1965 den Ruf an die Universität Hamburg. Zu diesem Zeitpunkt hatte er die Klientenzentrierte Gesprächstherapie von Carl Rogers bereits „entdeckt“ und war dort angelangt, wo das wissenschaftliche und das menschliche Anliegen zusammenfinden konnten. Dass das Humane uns nicht gegeben, sondern aufgegeben ist, das ist die Botschaft seines Lebens.

Link zum E-Book (2013, 288 Seiten)
Die Resonanz seiner Schüler (ungezählte Diplomandinnen, über 60 Doctores und etwa ein Dutzend Professoren) hat (der ebenfalls in diesem Jahr verstorbene) Inghard Langer in einer Festschrift zum 80. Geburtstag von Reinhard Tausch herausgegeben, unter dem treffenden Titel „Menschlichkeit und Wissenschaft“, erschienen 2001.

Die Saat war aufgegangen: sowohl seine pädagogisch-therapeutischen Methoden als auch vor allem sein Menschenbild haben in Deutschland einen enormen Einfluss auf die
Gestaltung der Ausbildungsgänge in Klinischer Psychologie, Sozialarbeit, Pädagogik und Pastoralpsychologie ausgeübt. - Das Menschenbild betonte die Eigenwilligkeit des Menschen, zu wachsen und sich wesensgemäß zu entwickeln. Dieses Streben nach Selbstverwirklichung kann eher durch menschliche Qualitäten in der Beziehungsgestaltung gefördert werden (Wertschätzung, Selbstkongruenz und Empathie) als durch professionell geprägte Behandlungsprozeduren.
Quelle: Deutsche Psychologische Gesellschaft für Gesprächspsychotherapie 
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Was sagt mir das?
  • Möchte ich als Lehrkraft und/oder PädagogIn den ökonomischen Ansatz für die Pädagogik und für LehrerInnen und SchülerInnen übernehmen?
  • Sehe ich mich als Lehr-Person (ganz/ teilweise/ gar nicht) als Fördernde/r von Human-Kapital?
  • Oder als was sonst? 
  • Auch wenn ich als Lehrkraft noch nie von Gary S. Becker und Human Capital  gehört habe, werde ich ganz sicher mit seinem Weltbild zu tun bekommen oder habe es schon damit zu tun: Zentrale Begriffe der aktuellen Bildungspolitik und "neuen Lernkultur" in BW, in Deutschland (Deutscher Qualifikationsrahmen für lebenslanges Lernen, DQR), in Europa (Europäischer Qualifikationsrahmen, EQR)  und global wie z.B. "Lernberater" und "Kompetenz-Orientierung" stammen ursprünglich aus diesem neo-liberalen Denkmodell, in dem der Einzelne [in erster Linie] als Vermarkter  seiner selbst auf einem globalen Markt gesehen wird. -  (Mehr darüber in der genannten Literatur und auch in anderen Posts dieses Blogs.)
  • Siehe auch: Von Liebe und schierem Grauen.
  • Es gibt ganz andere Konzepte von Bildung, z.B. das von Johann Amos Comenius, dem Namensgeber zahlreicher EU-Förderprogramme, aus dem 17. Jahrhundert ("Alle alles ganz zu lehren"); oder das der humanistischen Pädagogik von Carl R. Rogers ("Freedom to learn", "On Becoming a Person"); oder von Paolo Freire ("Bildung als Praxis der Freiheit", "Bildung und Hoffnung"). ...

Freitag, 4. Oktober 2013

Eine Gemeinschaftsschule ist keine Gemeinschafts-Schule

Warum nicht?


In seiner Studie "Expertise Gemeinschaftsschule" hielt der Tübinger Erziehungswissenschaftler Thorsten Bohl fest,
  • dass Gemeinschaftsschulen rund 20 bis 30 Prozent an Kindern brauchen, die besonders leistungsfähig sind, also Kinder mit einer Gymnasial-Empfehlung der Grundschule. 
  • Dieses Ziel ist auch an den Gemeinschaftsschulen in Tübingen nicht erreicht - obwohl sie mit 12,3 Prozent Gymnasial-Kindern regierungsbezirkweit der Erwartung am nächsten kommen.
  • Die Realschulen des Kreises kommen dem von Prof. Bohl genannten Ziel etwas näher:
    An den Realschulen im Kreis haben 14,8 Prozent der Fünftklässler eine Hauptschul- und 16,5 Prozent eine Gymnasialempfehlung. 
  • Sind also  - von der Zusammensetzung her - die Realschulen die heimlichen Gemeinschaftsschulen, wenn man als ein Ziel der GMS ansieht, dass Kinder aller Schularten länger gemeinsam lernen sollen?

"Die Eltern wollen erst sehen, wie die [Gemeinschafts-] Schulen arbeiten", sagte dazu Dr. Susanne Pacher, Präsidentin des Oberschulamtes Tübingen, (das aber heute nicht mehr Oberschulamt heißt, sondern Abteilung 7 des Regierungspräsidiums).

Und der Chef des Tübinger staatlichen Schulamtes Roland Hocker sagte es gleich ganz direkt:
"Wir sollen Schulen in ihrer Entwicklung zur GMS begleiten, nichts von oben draufstülpen.
Es geht darum, zwei Schularten zusammenzuführen, die Realschule und die Werkrealschule sowie die Leistungen auf dem Niveau der Realschule zu halten."
Also: Nichts mit Gemeinschaftsschule. Man könnte sagen: Teil-Gemeinschaftsschule, denn die "besonders leistungsfähigen" Kinder gehen erst mal ans Gymnasium.
Im Kreis Tübingen:
  • An die Gymnasien wechselten im laufenden Schuljahr 2,8 Prozent mit Haupt- und 8 Prozent mit Realschul-Empfehlung.
Siehe auch:
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Zwei Vorteile hat die GMS, die sie bisher attraktiv machen:
  • Die Segregation der HauptschülerInnen wird aufgehoben. (Siehe auch: Verbrechen Hauptschule)
  • "In den Gesprächen mit den Bürgermeistern in den Kreisen Reutlingen und Tübingen ist es durchaus so, dass eine GMS als Standort- und Kulturfaktor gesehen wird, die auch die Infrastruktur, etwa die Busanbindung, verbessert." (Schulamts-Chef Hocker)