Samstag, 1. März 2014

Von Kompetenzrastern, Inkompetenz, vom Beichtspiegel, dem erschöpften Selbst und Religions-Unterricht

Siehe auch:
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1971
erschien im Kreuz-Verlag dieses Buch von Manfred Böhm:
Die Welt begreifen.  Texte für denkbereite Christen.

40 Jahre später 
kritisieren katholische Religionspädogogen, die sich der Befreiungstheologie verbunden fühle, dass es bei dem was aktuell - wenn es nach den Vorstellungen der OECD geht - in Schule und Ausbildung gelernt werden soll, eben gerade nicht mehr darum geht,
die Welt zu begreifen und zu verstehen,
nicht mehr darum, sich in der Welt orientieren zu können oder gar sie verändern zu können.

Sondern Bildung werde in Zeiten des Neoliberalismus in erster Linie als Investitition in die eigene Person angesehen, als (Bildungs-) Kapital, mit dem ich auf dem Arbeitsmarkt wuchern und gegen andere mit weniger (Bildungs-) Kapital konkurrieren kann: "Das neoliberale Dogma, das Gary Becker 1976 formulierte, kennzeichnet die herrschende Sichtweise auf Mensch und Gesellschaft; die Human-Kapitaltheorie die er und andere entwickelt haben, eröffnet den Blick auf menschliches Verhalten aus einer ökonomischen Perspektive." -

Lernen dient seitdem vornehmlich meiner persönlichen Kompetenz-Vermehrung, ich sammle Kompetenzen, weil sie mir auf dem Markt eine persönliche Nutzenmaximierung ermöglichen. (Siehe auch den o.g. Link zu Becker und die Broschüre "Erziehung zur Inkompetenz" Seite 4).


Warum sollte ich auf ein Gymnasium gehen? Weil mich Wissen und Bildung interessieren? Luxus! -
Weil ich die Welt begreifen will?
Überflüssig! -
Weil ich die Welt vielleicht ändern will? - Unfug!

  • Ich bin Unternehmer/in meiner selbst.
  • Ich bin meine Ich-AG.
  • Ich will in mich investieren. 
  • Ich will mein Bildungs-Kapital vermehren.
  • Ich will Erfolg haben.
  • Ich bin allein verantwortlich für meinen Erfolg. 
  • Ich bin meines Glückes Schmid. 
  • Ich bin allein verantwortlich für mein Scheitern.
  • Ich bin selber Schuld.


Aus dem Gedicht "Einladung" von Nazim Hikmet
(1902-1963)
"Leben einzeln und frei
Wie ein Baum und dabei
Brüderlich wie ein Wald
Diese Sehnsucht ist alt
Sie gibt uns Halt"

sang Hannes Wader 1982 in Anlehnung an den türkischen Dichter Hikmet.

"Leben einzeln und frei" ist geblieben,
"brüderlich wie ein Wald" wurde im neoliberalen Song-Text gestrichen.

"Willst du unsern langen schweren Weg
Gemeinsam mit uns geh'n?
Oder willst du deine Kraft verschwenden
Im Alleingang gegen eine ganze Welt
Um zum Schluss in traurigen Legenden
Darzusteh'n als gescheiterter Held?"

Gescheiterter Held hieß es bei Hannes Wader 1982, Das erschöpfte Selbst nannte es der französische Soziologe Alain Ehrenberg 1998 (deutsch 2004).
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Die o.g. 12-seitige kleine Broschüre Erziehung zur "Inkompetenz" (12 Seiten) ist  unter > dieser Adresse zu beziehen.
Aus den Literatur-Hinweisen der Broschüre (nach Erscheinungsdatum sortiert):

  • Gary S. Becker, Der ökonomische Ansatz zur Erklärung menschlichen Verhaltens, Tübingen 1982
  • Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen Bd. 1, München 1987, S. 100 und S. 97
  • Eckard Klieme, Was sind Kompetenzen und wie lassen sie sich messen?, in: Pädagogik 6/2004
  • EMPFEHLUNG DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES vom 18. Dezember 2006 zu Schlüsselkompetenzen für lebensbegleitendes Lernen, in: Amtsblatt der Europäischen Union, 18. Dezember 2006, S. 17 u. 18
  • Michel Foucault, Die Geburt der Biopolitik. Frankfurt am Main 2006
  • Michel Foucault, Subjekt und Macht, in: ders., Ästhetik der Existenz, herausgegeben von Daniel Defert und Francois Ewald, Frankfurt am Main 2007, S. 88, S. 89
  • Alain Ehrenberg, Das erschöpfte Selbst, Frankfurt am Main 2008
  • Kathrin Dedering, Martin Goecke, Melanie Rauh unter Mitarbeit von Christoph Höfer, Externe Schulentwicklungsberatung in Nordrhein-Westfalen — Grundinformationen. Eine Untersuchung im Rahmen des DFG-Projektes „Wie beraten die Berater? Externe Berater als Akteure der Schulentwicklung" an der Universität Bielefeld, Fakultät für Erziehungswissenschaft, abgeschlossen im Mai 2010, S. 52
  • Deutscher Qualifikationsrahmen für lebenslanges Lernen verabschiedet vom Arbeitskreis Deutscher Qualifikationsrahmen (AK DQR) am 22. März 2011, S. 3, S. 7
  • Paulo Freire, Eine Antwort, in: ders., Bildung und Hoffnung, herausgegeben von Peter Schreiner, Norbert Mette, Dirk Oesselmann, Dieter Kinkelbur, Münster, New York, München, Berlin 2007, S. 136
  • Gary S. Becker, Eine späte „Antwort" auf Foucault in einem Seminar der Universität von Chicago, gehalten im Mai 2012. http://vimeo.com/43984248 
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Und was ist mit dem Beichtspiegel?
Text-Auszug: Lenkung durch Individualisierung
»Michel Foucault, der französische Philosoph und Analytiker der Macht, hat sich relativ spät und leider nicht mehr systematische mit einer Machtform beschäftigt, die […] in unserer Gesellschaft immer mehr an Bedeutung verloren hat: der Pastoralmacht. […]

Diese Machtform lässt sich „nur ausüben, wenn man weiß, was in den Köpfen der Menschen vor sich geht, wenn man ihre Seele erforscht, wenn man sie zwingt, ihre intimsten Geheimnisse preiszugeben. Sie setzt voraus, dass man das Bewusstsein des Einzelnen kennt und zu lenken vermag." Der prototypische Ort dieser Hirtenmacht ist — wie könnte es anders sein — die Beichte in der katholischen Kirche.

Auch wenn diese Machtform innerhalb der Kirche immer mehr zerrinnt, so heißt das nicht, dass sie überhaupt an Bedeutung verliert. Foucaults These:
Die Pastoralmacht ist eine Machtform, die ausgehend von über Jahrhunderte eingeübten kirchlichen Praktiken wiederzufinden ist in den unterschiedlichsten Bereichen unserer modernen bzw. postmodernen Gesellschaft. Und sie ist eine individualisierende Machtform, eine Form der Lenkung, die nicht unmittelbar auf das Subjekt, sondern auf sein Handeln zielt.

Dies hilft uns zu verstehen, wie die scheinbar offeneren Lernformen mit dem Phänomen der Machtausübung und Lenkung zusammenhängen und so mit dem Projekt des Neoliberalismus verwoben werden können.
Das Entscheidende an der Pastoralmacht ist, dass sie eine Machttechnik ist, die durch andere als die kirchlichen Institutionen übernommen wird und als neue, vielfältig verwendbare Machtform zur Verfügung steht. Die ehemals auf das Jenseits ausgerichtete Pastoralmacht kreist nun um das Heil des Menschen im Diesseits […].

Diese Macht ist gerade nicht zu verwechseln mit Gewalt oder Zwang. Wenn wir uns die Veränderungen in der Schule anschauen, dann lässt sich über einen längeren Zeitraum zeigen, wie sich die Formen der Einwirkungen auf Schülerinnen immer weiter von Gewalt und Zwangsmaßnahmen entfernt haben. Stattdessen haben sich Machttechniken entwickelt, die näher am Subjekt sind, gerade weil sie nicht mehr versuchen direkt auf das Subjekt einzuwirken, sondern sein Handeln in den Blick nehmen. [Output-Orientierung]
Nur so kann es gelingen, das Bewusstsein des Einzelnen zu erreichen und dadurch zu lenken, anstatt es zu zwingen.

An dieser Stelle wird nun auch deutlich, wozu die Standardisierungen in der Schule gebraucht werden: Ähnlich einem Beichtspiegel, wie er noch in den 60er und 70er Jahren in katholischen Kirchen üblich war und durch den die Einhaltung der Gebote detailliert abgefragt wurde, sind Standardisierungen die entscheidende Kontrollinstanz in Bezug auf das Handeln, weil nur mit ihnen überprüft werden kann, ob „richtig" gehandelt wurde.
Und sie sind zugleich der Hinweis auf das Misstrauen gegenüber wirklicher Individualität und wirklicher Heterogenität, die möglicherweise doch zu „falschem" Handeln führen könnten. (So ist auch der Beichtspiegel der lebendige Beweis dafür, dass dem eigentlichen Gebot nicht getraut und es durch die eingeführten Standards konterkariert wurde.) Darüber hinaus sind sie der Garant und Indikator für die Marktförmigkeit der erworbenen Qualifikationen und Kompetenzen. […]«
(Broschüre S. 5f)
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