Montag, 25. April 2022

»Die Russen sind auf die Weltherrschaft aus«. Von Putin, Helmut Schmidt, Sozialdemokraten und Margret Thatcher

Zum Buch
Philipp Sarasin,
geboren 1956, ist Professor für Neue Allgemeine Geschichte am Historischen Seminar der Universität Zürich. Er war Mitbegründer des Zentrums Geschichte des Wissens von Universität und ETH Zürich (man sagt ja, das sei die beste Universität auf dem europäischen Kontinent) und ist Mitherausgeber des Online-Magazins Geschichte der Gegenwart.

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Weiter unten, einige Auszüge aus dem Buch. 

Warum? Es ist verblüffend, wie viele Parallelen man zur heutigen Situation in Europa entdecken kann (Putin, Russland, Kalter Krieg, Bedrohung der Individuellen Freiheiten, Es ist, als würde die Geschichte sich wiederholen. Als hätten wir keine Zeiten-Wende, sondern eine Rück-Kehr der Zeiten. Als würden die gleichen Kämpfe von Mitte der 1970er Jahre nun, 50 Jahre später, noch einmal geführt. - Mit welchem Ausgang dieses Mal? Mit welchem Unterschied?

In der Mitte der Siebzigerjahre blickten viele Zeitgenossen mit einer Mischung von Schrecken und Erleichterung auf den Kalten Krieg zurück: als eine Zeit, in der die Gefahr eines atomaren Armageddon unmittelbar bevorzustehen schien, in Berlin die Mauer gebaut wurde und in Prag sowjetische Panzer Dubceks Reformkommunismus niedermachten. Die Rede vom »Atomkrieg« beziehungsweise vom »nuclear war« war jetzt vergleichsweise selten geworden, die beiden Supermächte bemühten sich um »Entspannung« und die Bundesrepublik strebte unter der Regierung Brandt im Verhältnis zur DDR und den osteuropäischen Staaten nach einem »Wandel durch Annäherung«.

Die Schlussakte der »Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa« (KSZE) 1975 in Helsinki schließlich weckte konkrete Hoffnungen auf ein friedliches Zusammenleben und einen ebensolchen Austausch zwischen den Blöcken.

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Einige weitere Stichworte:

  • Das strategische Gleichgewicht in Europa werde/wurde gefährlich destabilisiert
  • Die »individuelle Freiheit« in Amerika sei durch die militärische Überlegenheit der Sowjetunion bedroht
  • »There is no substitute for victory« — »es gibt keine andere Option als den Sieg« über die Sowjetunion
  • Die in Margret Thatchers Augen unmittelbare Bedrohung der Freiheit des Westens durch die sowjetische militärische Aufrüstung: 
  • »Die Russen sind auf die Weltherrschaft aus, und sie eignen sich rasch die Mittel an, um die mächtigste imperiale Nation zu werden, die die Welt je gesehen hat«
  • Die Sowjetunion nütze die Entspannungspolitik schamlos aus, die Abrüstungsgespräche, internationale Verträge; ... schamlos zu ihrem eigenen militärischen Vorteil
  • Für Thatcher bedeutete dieses »Vorrücken der Macht des Kommunismus«, dass der westliche »Lebensstil« insgesamt bedroht sei. Daher gäbe es »Momente in unserer Geschichte, in denen wir eine grundsätzliche Wahl zu treffen haben«.
  • Der Unterschied zwischen der Sowjetunion und Labour, der Sozialdemokratie, war für sie nicht grundsätzlicher, sondern bloß gradueller Natur, was sie gleich zu Beginn der »Britain Awake«-Rede mit der mehr als spitzen Bemerkung unterstrich, 
  • Sozialisten würden sich nicht vor russischen U-Booten und Raketen fürchten, weil »vielleicht einige Leute in der Labour Party denken, wir stünden auf derselben Seite wie die Russen«. 
  • Am 19. Januar 1976 richtete Thatcher in einer Rede in der Londoner Kensington Town Hall unter dem Titel »Britain Awake« das Visier ihrer von einem Team von Redenschreibern scharf geschliffenen Rhetorik auf den sowjetischen Feind. In sehr unverblümten Worten, die wie eine aus der Zeit gefallene Kampfansage an den Kreml wirken mussten, geißelte sie die in ihren Augen unmittelbare Bedrohung der Freiheit des Westens durch die sowjetische militärische Aufrüstung..

In Deutschland warten "wir"(?) nun ungeduldig auf die "Germany-awake"-Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz, in der er mit scharf geschliffener Rhetorik und in sehr unverblümten Worten sein Visier auf den russischnen Feind richtet, seine Kampfansage an den Kreml: "Deutschland erwache!" (?) 

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SS-20 Mittelstreckenrakete. Quelle
Die RSD-10 Pioner war eine sowjetische mobile ballistische Mittelstreckenrakete zum Transport von nuklearen Sprengköpfen. Die Bezeichnung der US-amerikanischen Defense Intelligence Agency lautet SS-20 (dabei steht das Akronym für surface-to-surface „Boden-Boden“) und die NATO-Bezeichnung ist Saber. Diese Raketen waren Gegenstand großer politischer Auseinandersetzungen zwischen der NATO und der Sowjetunion; ihre Stationierung hatte den NATO-Doppelbeschluss zur Folge. Die Raketensysteme wurden unter dem 1987 geschlossenen INF-Vertrag bis zum Jahr 1989 ausgemustert und bis 1991 zerstört. [Wikipedia] 

 

Auszug aus dem Buch. 

Die Schlussakte der »Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa« (KSZE) 1975 in Helsinki schließlich weckte konkrete Hoffnungen auf ein friedliches Zusammenleben und einen ebensolchen Austausch zwischen den Blöcken. Diese optimistischen Einschätzungen teilten nicht alle. Brandts Nachfolger Helmut Schmidt hatte am 28. Oktober 1977 in einer Rede im Londoner Institute for Strategic Studies amerikanische Geheimdiensterkenntnisse bekanntgemacht, dass die Sowjetunion begonnen habe, die neue atomar bestückte Mittelstreckenrakete RSD-10 »Pioner« (im NATO-Code die SS-20 »Saber«) in Gefechtsbereitschaft zu stellen.

Diese mobile Trägerrakete mit ihren drei atomaren Sprengköpfen bedrohe erstmals nicht das Territorium der USA, sondern China und den Nahen Osten, vor allem aber Westeuropa; sie würde daher, so Schmidt, trotz der in den SALT-II-Gesprächen angestrebten atomaren Parität der Supermächte das strategische Gleichgewicht in Europa gefährlich destabilisieren." Schmidt sprach weitgehend verklausuliert zu — vermutlich ausschließlich männlichen — Experten und Diplomaten, seine Londoner Rede fand daher in der Öffentlichkeit kaum Resonanz. Aber auch die Regierung Carter schenkte ihr wenig Gehör. Carters nationaler Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski wehrte sich dagegen, die SS-20 in die SALT-II-Verhandlungen aufzunehmen, um diese nicht zu verkomplizieren, und auch andere außenpolitische Experten warnten davor, übertriebene Bilder von der sowjetischen militärischen Bedrohung zu zeichnen."

 Deutlich weniger diplomatisch und auch viel pauschaler als Schmidt

— und noch vor dessen Warnungen vor der SS-20 — hatte sich im Jahr zuvor [1976] in den USA im Vorwahlkampf der Republikanischen Partei Ronald Reagan, der parteiinterne Herausforderer des noch amtierenden Präsidenten Gerald Ford, über die sowjetische Bedrohung geäußert. Der ehemalige Gouverneur von Kalifornien und erklärte Konservative vom rechten Flügel seiner Partei griff Ford vor allem wegen dessen angeblich zu nachgiebigen Haltung gegenüber der Sowjetunion an. Ford und sein Außenminister Henry Kissinger hätten unter dem Zeichen der détente [Die Verbesserung zwischenstaatlicher Beziehungen, Entspannungspolitik] den Niedergang der amerikanischen Militärmacht zu verantworten, die USA seien strategisch hinter die Sowjets weit zurückgefallen und in »Angola, Kambodscha und Vietnam« sei der Friede, von dem Ford spreche, »der Friede des Grabes«.

Ganz ähnliche Töne waren gleichzeitig in Großbritannien zu vernehmen.  

Sie kamen von der konservativen Oppositionspolitikerin Margaret Thatcher, die 1975 den in zwei nationalen Wahlen als Premierminister knapp geschlagenen und politisch geschwächten Tory-Parteichef Edward Heath vom Vorsitz der Konservativen verdrängt hatte und zum ersten weiblichen »leader« einer großen politischen Partei eines westlichen Staates aufgestiegen war."

Thatcher zitierte gar Solschenizyns Behauptung, der Westen befände sich im »Dritten Weltkrieg« gegen die Sowjetunion und verliere dabei immer mehr an Boden; es sei dies ein Krieg, zu dem sie nicht nur die »kommunistische Aggression« in Indochina und die sowjetische Unterstützung der MPLA in Angola zählte, sondern zum Beispiel auch die Nelkenrevolution in Portugal.
Doch ganz unabhängig davon, ob Thatchers alarmistische Beschreibung des militärischen Potentials der Sowjetunion die Sachlage richtig wiedergab — es existierten dazu auch ganz andere Einschätzungen —, war schon an der Rede selbst erkennbar, dass es allein darum gar nicht ging.

Es seien vielmehr grundsätzlich die »Exzesse des Sozialismus«, die nicht nur wegen gefährlich niedriger Verteidigungsausgaben der Labour-Regierung, sondern ebenso in Gestalt ihrer »sozialistischen« Wirtschaftspolitik »das Überleben unseres way of life« bedrohe.

Diese polemische Verbindungslinie zwischen einer wiederentflammten Rhetorik des Kalten Krieges und der innenpolitischen Denunziation des wohlfahrtsstaatlichen Kompromisses der Nachkriegszeit als »Sozialismus« war typisch für Thatchers offensiven Konservatismus, der kurz nach ihrer Wahl zur Parteichefin auf den Neologismus »Thatcherism« gemünzt wurde, weil er für die konservative Presse anfänglich verwirrend neu und schwer zu fassen war.
Aber dieser neue Konservatismus war nicht einfach Thatchers Erfindung. Er prägte auch, um damit zu beginnen, das Programm des 1976 knapp gescheiterten Präsidentschaftskandidaten Reagan.

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Alarmismus ist ein politisches Schlagwort, mit dem eine unnötige oder übertriebene Warnung vor Problemen bezeichnet oder behauptet wird. Wer den Begriff verwendet, drückt damit in der Regel wertend aus, dass er die Warnungen und Ängste nicht teilt oder für stark überzogen hält. Der Begriff fand auch Eingang in die Medienkritik. [Wikipedia]

 Die Movimento Popular de Libertação de Angola (MPLA; deutsch Volksbewegung zur Befreiung Angolas) war eine der drei wichtigsten angolanischen Befreiungsbewegungen gegen die Kolonialmacht Portugal und ist seit der Unabhängigkeit des Landes (1975) die beherrschende Partei Angolas. Sie konnte ihre politische Machtposition auch nach der Einführung des Mehrparteiensystems im Jahr 1990 behaupten und regiert das Land bis in die Gegenwart mit einer relativ stabil erscheinenden absoluten Mehrheit. Die Partei mit Sitz in Luanda wurde ursprünglich als marxistische bzw. kommunistische Bewegung gegründet, jedoch hat sich die MPLA im Lauf der Jahre in ihrer Ausrichtung zusehends sozialdemokratischen Positionen angenähert. [Wikipedia] 

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Siehe auch:

Zeitenwende. Von Männlichkeit, Helden, Antihelden, Pophelden, Schwarz-Weiß-Dichotomie, Putin, Selenski, Satan, Königreichen des Bösen und des Guten 

 



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