Es gibt wohl keine pädagogische Diskussion im Lande mehr, ohne dass der Referent - oder die Referentin - einen Satz fallen lässt wie: "Wie auch die neuesten neurobiologischen Befunde beweisen" oder: "wie auch der renommierte Gehirnforscher XY schreibt".
Damit möchten die Referierenden ihre Aussage unterstreichen, sie quasi unbezweifelbar und nicht diskutierbar machen. Denn: ICH kann vielleicht irren - aber die Neurobiologie ist unfehlbar - denn man kann ja alles im Computer-Tomographen nachschauen. -
Der Referierende glaubt vielleicht, seine Aussage könne angezweifelt werden, wenn er sie nicht durch ein Zitat aus der Neurobiologie belegt. - Aber das ist eine geliehene Autorität, die auf schwachen Füßen steht. Denn je mehr die Erwachsenen ihren Kinderglauben und ihre Ehrfurcht vor der Allwissenheit der NeurobiologInnen verlieren, um so mehr schwindet auch die Autorität des Referierenden, der seine Aussage mit Hilfe der Neurobiologie glaubte stützen zu müssen.
Mythos Neurobiologie
Entzaubert
hat den Mythos von der Unfehlbarkeit der Neubiologie zunächast einmal ein "Papst" der Neurobiologie und des Lernens selber: Manfred Spitzer mit seinem Buch "Digitale Demenz":
Digitale Medien machen süchtig. Sie schaden langfristig dem Körper und vor allem dem Geist. Wenn wir unsere Hirnarbeit auslagern, lässt das Gedächtnis nach. Nervenzellen sterben ab, und nachwachsende Zellen überleben nicht, weil sie nicht gebraucht werden. Bei Kindern und Jugendlichen wird durch Bildschirmmedien die Lernfähigkeit drastisch vermindert. Die Folgen sind Lese- und Aufmerksamkeitsstörungen, Ängste und Abstumpfung, Schlafstörungen und Depressionen, Übergewicht, Gewaltbereitschaft und sozialer Abstieg. ... so der renommierte Gehirnforscher Manfred Spitzer (Klappentext).Wer`s glaubt wird wohl damit nicht unbedingt selig...
Die Aufregung war groß, als im Sommer vorigen Jahres die Freiherr-vom-Stein-Schule in Fulda eine iPad-Klasse eingerichtet hat. Eine der prominentesten Kritiken ist die des Ulmer Psychiaters Professor Manfred Spitzer. Er gab zum Start der iPad-Klasse Interviews, in denen er den Einsatz von Computern im Unterricht generell in Frage stellte. Handschriftlich geschriebene Inhalte würden wesentlich besser im Gedächtnis gespeichert als getippte, sagt er: „Wer sich die Welt nur per Mausklick aneignet und sie nicht – wörtlich – begreift, der kann deutlich schlechter über sie nachdenken.“ Das Argument, der Umgang mit Neuen Medien gehöre mittlerweile zum Berufsalltag, greift für Spitzer zu kurz. Er verweist darauf, dass PCs nicht nur Lernprozesse beeinträchtigten, sondern auch zu Lese- und Aufmerksamkeitsstörungen führten und sogar internet- beziehungsweise computersüchtig machten. Quelle
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Entzaubert
hat diesen Mythos der (selbstverständlich "renommierte" ;-) Neurobiologe Felix Hasler mit seinem Buch:
„Neuromythologie. Eine Streitschrift gegen die Deutungsmacht der Hirnforschung“. Transcript Verlag, Bielefeld 2012, 260 Seiten, 22,80 Euro.
Siehe auch: http://www.neuroculturelab.com/
Links: Felix Hasler bei einem Vortrag im Haus der Kulturen der Welt in Berlin |
"Hasler hat die gründlichste und eisigste Kritik dieses in den jüngsten Dekaden hoch subventionierten Wissenschaftsspiels verfasst. Er sagt: Sogenannte bildgebende Verfahren, von denen behauptet wird, sie könnten Depressionen, Alkoholismus oder Süchtiges überhaupt erklären, taugen nichts. Nicht jedenfalls für das, was sie vorgeben zu erklären. Mit technisch-computeroid gewonnenen Bildern von Gehirntätigkeiten lasse sich Subjektives nicht lesen, nicht kenntlich machen. Was ein Mensch denkt und weshalb er gerade das tut, was er träumt - und nichts anderes -, sei unmöglich in schrillen Tomographien aus Gehirnregionen abzubilden." Quelle
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Re-Interpretation
Tatsächlich gibt es bisher nur wenige wirklich überraschende Ergebnisse der Neurobiologie. Davon berichtet der leider zu früh verstorbene Klaus Grawe in seinem Buch "Neuropsychotherapie": Man dachte früher, dass durch eine Therapie der Phobien (z.B. Höhenangst, Angst vor Spinnen) die Phobie "verschwunden" sei, wenn der Patient nach der Therapie die Praxis ohne Phobie verlässt. In der Tomographie sieht man nun, dass der Gehirnbereich, der im Moment der Angst aktiv war, immer noch aktiv ist. Nach der Therapie ist aber ein zusätzlicher Bereich in einer anderen Gegend aktiv, der vorher nicht aktiv war: Es ist wohl so, dass die Angst noch da ist, der Patient jedoch eine Gegen-Aktiviät aufgebaut hat, die seine Angst unterdrücken kann.
Auch die Entdeckung der Spiegel-Neuronen , die zum ersten Mal 1992 beschrieben wurden, war eine wirklich erstaunliche Entdeckung, die einen wichtigen Beitrag zur Psychologie und Pädagogik geleistet hat. Vergleiche dazu das Buch des (natürlich "renommierten" ;-)
Joachim Bauer: Warum ich fühle, was du fühlst: intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneurone. Hamburg: Hoffmann und Campe, 2005.
Angemessen schreibt Susanne Thurn (Leiterin der Laborschule Bielefeld) über die Neurobiologie: "Die neurowissenschaftliche Re-Interpretation von reformpädagogischen Erfahrungen aus mehr als einem Jahrhundert stärkt deren Begründungskräfte."
(Siehe auch: Susanne Thurn: Eine andere Schule ist möglich!).
"Re-Interpretaion" ist wohl in den meisten Fällen - wenn auch nicht immer, siehe oben) das passendere Wort, wenn man von Neurobiologie und Pädagogik spricht.
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