Hinter dieser Zeitung steckt bekanntlich immer ein kluger Kopf, oder auch zwei, in diesem Falle:
Dr. Matthias Burchardt, Professur für Allgemeine Pädagogik (Lehrstuhlvertretung) an der Pädagogische Hochschule Ludwigsburg, und Prof. Dr. Jochen Krautz
vom Fachbereich Bildungswissenschaft des Instituts für Schulpädagogik und Lehrerbildung an der anthroposophisch geprägten privaten Alanus-Kunst-Hochschule in Alfter bei Bonn. Beide sind Mitglied der "Gesellschaft für Bildung und Wissen e.V."
Siehe auch: Link 1, Link 2, Link 3.
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Die Autoren schreiben:
Nichts bearbeitet die grün-rote Landesregierung mit solcher Verve wieJa,
ausgerechnet die Bildungspolitik, die in Baden-Württemberg seit
langem als erfolgreich und vorbildlich gilt. Das belegen harte Zahlen
wie die geringe Jugendarbeitslosigkeit, niedrige Schulabbrecher-und
Wiederholerquoten sowie Spitzenplätze bei Studien im
Ländervergleich. Umso mehr verwundert, unter welchem Druck nun
der Umbau der Schullandschaft betrieben wird. Denn an die Stelle von
Hauptschule, Werkrealschule, Realschule soll die
Gemeinschaftsschule als zweite Säule neben das Gymnasium treten.
da ist etwas dran: PISA bescheinigte Baden-Württemberg (BW) schon vor Jahren, dass sein mehrgliedriges Schulsystem - im Vergleich zu den anderen Bundesländern - sehr durchlässig und erfolgreich sei (abgesehen von den bekannten Schwächen des deutschen Bildungs-Systems).
Und:
Baden-Württembergs neue Regierung schnitt bei einer repäsentativen Umfrage im Mai 2013 zwar weiterhin gut ab: 68% der befragten WählerInnen sagen, die Regierung bewege sich in die richtige Richtung, 21% sagen: In die falsche Richtung. "Damit liegt die Landesregierung in der Zufriedenheit im bundesweiten Vergleich auf Platz drei hinter Hamburg und Bayern." -
Nur:
Mit der Bildungspolitik sind die WählerInnen (noch?) nicht zufrieden: Zufrieden oder sehr zufrieden mit der Schul- und Bildungspolitik der Landesregierung sind nur noch 26 Prozent (-6% im Vergleich zum Mai 2012) der Befragten, während 59 Prozent (+5%) unzufrieden oder weniger zufrieden sind.
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Weiter heißt es in der FAZ:
Die gemeinsame Beschulung äußerst heterogener Gruppen brauchtJa,
aber entweder viele gut ausgebildete Lehrer in kleinen Klassen oder
die Etablierung des "selbstorganisierten Lernens", der neuen
Zauberformel für "individuelle Förderung". Nachdem
Ministerpräsident Kretschmann 2012 den Abbau von 11 600
Lehrerstellen angekündigt hatte, könnte die gepriesene "Neue
Lernkultur" als schlichte Rationalisierungsmaßnahme verstanden
werden. Schon aus diesem Grund wäre es kurzsichtig, die
Gemeinschaftsschule allein im Kontext alter Schulformdebatten zu
betrachten. Vielmehr geht es auch um eine grundlegende Veränderung
pädagogischer Praxis und ihrer Leitvorstellungen, ...
auch die größte Bildungsgewerkschaft in BW, die GEW, kritisiert die Streichung von Stellen und Stunden durch die neue Bundesregierung:
Stuttgart – „Die Landesregierung hat zwei Jahre nach ihrem Start noch immer kein Konzept für die bildungspolitischen Ziele und fährt stattdessen mit dem Rasenmäher durch die Schulen. Schülerinnen und Schüler sowie deren Eltern werden sich ab Herbst auf eine schlechtere Unterrichtsversorgung und die Streichung vieler Zusatzangebote einstellen müssen“, sagte am Dienstag (07.05.) Doro Moritz, Landesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). - Die Bildungsgewerkschaft verlangt die Rücknahme der Kürzungspläne für das allgemeine Entlastungskontingent.
Und:
Auch KollegInnen, die an führender Stelle in der Schulreform mitarbeiten, bezweifeln, dass die versprochene individuelle Förderung in den schönen neuen Schulen mit den gegebenen Mitteln machbar sein wird. -
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Und weiter im Artikel:
Die versprochene "Neue Lernkultur" bedient sich vor allem einer neuen Sprache: Lehrer werden jetzt zu Lernbegleitern umdefiniert, die Lernjobs verteilen, Lernarrangements gestalten und Kompetenzdiagnose betreiben. Schüler, die nun Lernpartner heißen,Noch einmal Ja:
führen Lerntagebücher, arbeiten Lernpläne in einzelnen Lernpaketen ab, füllen Checklisten aus und tragen ihre Lernfortschritte inKompetenzrastern ein. Diese zwischen Ökonomismus und reformpädagogischer Emphase schwankende Sprache kündigt das pädagogische Grundverhältnis auf. - Die Pädagogik weiß seit Jahrhunderten, was heute viele Humanwissenschaften belegen:
Erziehung, Bildung und Lernen sind ein Beziehungsgeschehen zwischen Personen, die ihre Aufmerksamkeit gemeinsam auf eine Sache richten. Hier wird aber der unabdingbare Zusammenhang von personaler Beziehung und fachlichem Sachanspruch zugunsten einer
kompetenzorientierten Selbststeuerung nach dem Modell des Projektmanagements aufgekündigt.
Die "neue Sprache" soll zwar ausdrücken, dass es nicht nur um eine äußere und strukturelle Reform der Schulform gehen soll, sondern auch um eine pädagogische Reform, um einen neuen Akzent in der Lehrer-Rolle: Weg vom "talkmaster" - hin zum "guide", wie es die ReformpädagogInnen schon vor hundert Jahren gefordert haben. Vom vorne-vor-der-Klasse stehenden "Lehrenden" hin zum Begleitenden, zum Mentor, zum Coach, zum Facilitator, zum Päda-Gogen - oder wie man sie auch immer bezeichnen möchte.
Pestalozzi-Denkmal in Zürich |
"THE TEACHER A GUIDE NOT A TALKMASTER" - (USA 1919) |
Die "neue Sprache" möchte zwar ausdrücken, dass die SchülerInnen eigenverantwortlicher und mehr aus sich heraus arbeiten sollen und dürfen - das ist die "reformpädagogische Emphase", von der die beiden Autoren sprechen. - Doch droht die "neue Sprache" zum Orwellschen New Speak zu verkommen, wenn bei den Lehrkräften die Begeisterung schwindet, weil ihnen das nötige Rüstzeug nicht an die Hand gegeben wird: Fortbildung, Zeit, Muße, Beratung, Coaching, unterstützende Kräfte in den Schulen, Klassen in angemessener SchülerInnen-Zahl, geeignete Räume und Ausstattung, eine sorgfältige regionale Schulentwicklung...
Und:
Die Autoren haben Recht: Wenn die Reform der U-Methodik (nur) darin besteht, dass man die SchülerInnen vor die berühmten "Lern-Pakete" und "Lernjobs" setzt und sie dort auf zwei oder drei Niveaus in (halbwegs) eigenem Tempo "individualisiert" lernen lässt - dann kann es das nicht gewesen sein. - So (allein) geht`s nicht.
Siehe auch:
- Die entscheidene Variable für hohen Lernerfolg
und: - Benjamin Blooms Untersuchungen über HochleisterInnen
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So entlarven sich die Leitbegriffe der Reform "Gemeinschaft" undJa,
"Individualisierung" als Marketingvokabeln: Zwar werden Kinder mit
verschiedenen Fähigkeiten und Bedürfnissen in einem Raum
zusammengefasst, doch bildet sich daraus keine Gemeinschaft, denn
sie werden zu vereinzelten Lernplanbewältigern isoliert. "Individuell"
ist nur das Tempo und die Reihenfolge, in der die normierten Lernpakete abgearbeitet werden.
das KANN passieren - MUSS es aber nicht, wenn das Arbeiten mit Lernpaketen die Schulwochen nicht dominiert und durch andere Unterrichts- und Arbeitsformen (mehr als) ergänzt wird und die SchülerInnen wirklich einen "GUIDE" (siehe oben) an ihrer Seite haben.
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Weiter im Text:
Bemerkenswert ist, dass diese Konzepte in Baden-Württemberg vor allem von dem schweizerischen Bildungsunternehmer Peter FrattonOk, in diesem Abschnitt werden Herr Burchardt und/oder Herr Krautz doch etwas arg polemisch: "krude Mischung"...
propagiert werden. Frattons Thesen dürften einem wissenschaftlichen
Diskurs kaum standhalten: Provokant formuliert er etwa "vier
pädagogische Urbitten" des Kindes: "Bringe mir nichts bei", "Erkläre
mir nicht", "Erziehe mich nicht" und "Motiviere mich nicht". Diese
krude Mischung aus Antipädagogik und Konstruktivismus enthält den
ideologischen Kern der "Neuen Lernkultur": Lernen geschieht
angeblich als autonome "Konstruktion" des Lerners -als habe die
Schule das Prinzip der Selbsttätigkeit erst durch Fratton entdeckt. Was
zuvor zur pädagogischen Professionalität gehörte, gilt jetzt als
übergriffig: die pädagogisch und didaktisch sorgfältige Zuwendung
zum Schüler.
Außerdem: Natürlich geschieht Lernen (auch immer) konstruktivistisch. Das ist keine "krude" Aussage.
Zudem: Herr Fratton zeigt in seinen Präsentationen zwar immer noch seine (provokativen) "Vier pädagogischen Urbitten", doch weil er damit oft gar nicht gut ankam (bei Eltern und Parlaments-Abgeordneten), fügt er inzwischen (zumindest manchmal) vier weitere Bitten erläuternd hinzu. Das sollte seriöse Autoren wissen und kommentieren - und nicht einfach verschweigen.
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Weiter im Zeitungs-Artikel:
Insofern muss man die Landesregierung fragen, warum sie die SchülerAuch an dieser Stelle sind die beiden Autoren nicht fair: Man kann zwar darüber streiten, dass ein Bildungsunternehmer in der Expertenkommission sitzt, doch erwecken die beiden Autoren den Eindruck, als säßen alle "renommierten Fachleute" nur beratend am "Katzentisch".
einem Bildungsunternehmer anvertraut, der in der Landtagsanhörung
zum Besten gab, er habe "keine Ahnung, was dabei herauskommt,
aber schön falsch ist auch schön"? Warum wird eine ganze
Schulreform auf solche Lehren gebaut? Warum setzt man nicht auf die
Expertise renommierter Fachleute aus den eigenen Hochschulen?
Warum wendet man Steuergelder auf, um einen privaten Akteur zu
bezahlen, dessen Agenda abseits der Wissenschaft verläuft? Wie kann
es sein, dass Fratton Mitglied der Kommission zur Neugestaltung der
Lehrerbildung Baden-Württemberg war, während die Fachleute des
Landes, der Rektor der PH Ludwigsburg, Fix, der Rektor der
Universität Freiburg, Schiewer, und der Direktor des Staatlichen
Seminars für Didaktik und Lehrerbildung Stuttgart, Schöberle, nur als
Gäste ohne Gestaltungsmandat am Katzentisch der Kommission
saßen?
Das ist falsch.
Entweder aus Unwissenheit oder um Stimmung zu machen, was sich beides für Professoren nicht ziemt. Denn die Expertengruppe besteht neben Fratton auch noch aus einer
- Vorsitzenden (Sybille Volkholz),
- einem Geschäftsführer (Prof. Dr. phil. Jörg-U. Keßler), sowie
- Prof. Dr. Drs. h.c. Jürgen Baumert,
- Prof. Dr. Cornelia Gräsel,
- Prof. Dr. Mareike Kunter,
- Prof. Dr. Doris Lemmermöhle,
- Prof. Dr. habil. Bernd Ralle,
- Prof. Dr. phil. Rolf Werning,
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Die inhaltliche Gestaltung dieser "Qualifizierungsmaßnahme" liegt auch hier bei einem privaten Akteur, Andreas Müller vom Institut Beatenberg, der mit Fratton im Verwaltungsrat der Impact Lern AG sitzt. Beide Modelle sollen
abgestimmt und in eine landesweite Gesamtkonzeption überführt
werden. Ob Frattons aller pädagogischen Vernunft widersprechendes
sozialpsychologisches Großexperiment tatsächlich die erwarteten
Ergebnisse bringt, darf bezweifelt werden. So gibt es bereits
Meldungen, dass an Schulen der Fratton-Firma in der Schweiz knapp
die Hälfte der Schüler die Abschlussprüfung nicht besteht.
Natürlich würde man sich hier zu der gewichtigen Aussage "So gibt es bereits
Meldungen, dass an Schulen der Fratton-Firma in der Schweiz knapp
die Hälfte der Schüler die Abschlussprüfung nicht besteht" ein paar genauere Quellenangaben wünschen! -
(Etwas finden Sie dazu hier: "Teures Glück?". Aber das ist noch unzureichend.)
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Zum Faz-Archiv: Hier
p.s.:
- Dass gerade die Schweizer Fratton und Müller vom KuMi ausgewählt wurden, beruht wohl mehr auf Zufälligkeiten (Nähe zur Schweiz, wer gerade wen kannte...) als auf dem Ergebnis einer systematischen und gründlichen Suche.
- Dass staatliche Aufgaben immer mehr an private UnternehmerInnen vergeben werden, ist leider Folge des immer noch herrschenden neoliberalen Zeitgeistes in der deutschen Politik. Offenbar auch (immer noch) in der rot-grünen.
- Die Folgen der neoliberalen Wirtschaftspolitik bekamen früher am ehesten die Menschen in Südamerika zu spüren. Dort haben viele Länder die Herrschaft des IWF* mittlerweile hinter sich gelassen. Nun breitet sich diese Politik via Troika langsam auch auf Europa aus: Griechenland, Italien, Portugal... Deutschland fühlt sich (noch) gefeit. Schau`n wir mal. Hoffen wir mal....
Ob das irgendwie zusammen hängt, wenn Griechenland 15.000 Beamte entlässt, Spanien den Beamten die Pensionen kürzt und schon 8% aller staatlichen Lehrkräfte entlassen hat und wenn Baden-Württemberg 11.600 LehrerInnen-Stellen streicht? Pardon: LernbgleiterInnen-Stellen ...
*Siehe dazu auch:
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