Samstag, 29. August 2020

Berlin im Herbst. Noch herrscht Demokratie in Deutschland. Eine wüste Gemengelage...

Zum Mittag hin gibt es Unruhen an der Uni, wieder einmal — 

Gegen »Juda« und »das System«.

Herbst*, ein Braunhemd hat Hakenkreuzbänder an die Kränze des studentischen Ehrenmals gehängt, ein Linker sie wieder abgeschnitten. Hasserfüllt stehen sich die verfeindeten Lager vor dem Hauptgebäude der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität gegenüber, nur durch eine schmale Gasse getrennt, »bereit, sich jeden Augenblick aufeinanderzustürzen, wenn von irgendeiner Seite ein provozierendes Wort fiel«, wie sich ein Studienfreund Harros erinnert» Auf der einen Seite positionieren sich die roten Studenten, die Sozialisten und Kommunisten und das kleine Häuflein der bürgerlichen Demokraten. Von rechts schreien die Nazis und die mit ihnen verbündeten nationalistischen Corpsstudenten ihre Kampflosungen gegen »Juda« und »das System«. So oft schon ist der Unterrichtsbetrieb in dieser unsicheren Weimarer Republik wegen politischer Proteste lahmgelegt worden.

Quelle
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Harro** ist ein junger Student der Staatswissenschaften und hat an diesem Tag ausgeschlafen. …
Harro ist dreiundzwanzig und will die Gesellschaft radikal umgestalten, zusammen mit Henry Erlanger und den anderen. Die Lage ist polarisiert, 

die Parteien haben abgewirtschaftet und repräsentieren das Volk nicht mehr. So empfindet Harro. Aber was soll an die Stelle der Parteien treten? Was soll das überhaupt sein, das Volk?

Noch ist seine Zielsetzung diffus, und er liebäugelt auch mit rechten Positionen, unterstützt beispielsweise den Kampf gegen das »Versailler Diktat«, das Deutschland nach dem verlorenen Weltkrieg mit hohen Reparationszahlungen belastet. Es sind solche Querfrontgedanken, die auch sein Hirn durchziehen, antiparlamentaristische Impulse, alles noch unausgegoren.

In dieser Spätphase der Republik sind die ideologischen Fronten nicht immer eindeutig, und wenn es heißt, dass in der von ihm gegründeten und redigierten Zeitschrift - im Gegner - Texte aus allen Lagern veröffentlicht werden, führt das dazu, dass auch solche von Ernst Niekisch darin stehen, von Karl Otto Paetel und anderen Nationalbolschewisten oder von oppositionellen Nazis aus der SA. 

Auch Kommunisten, Abtrünnige der offiziellen Linie der KPD, kommen hier zu Wort, ebenso Katholiken oder auch der Vorsitzende des Berliner »Reichsbanners«, einer sozialdemokratischen Wehrorganisation.
Es ist eine wüste Gemengelage…

* Herbst 1932
** Harro Schulze-Boysen, (* 2. September 1909 in Kiel; † 22. Dezember 1942 in Berlin-Plötzensee)

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Text, leicht verändert, aus dem Buch:

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Und wie es damals weiter ging (Text wieder leicht verändert):

Harro steigt aus der Tram, da wird die Straße erneuert. Unter den Linden sind die Blätter schon braun, es wird kalt. Lockeren Schritts, Hände in den Hosentaschen, nähert er sich dem Vorplatz der Universität. Er sieht die sich gegenüber stehenden Studenten.

Harro kennt seine Pappenheimer, und jeder kennt Harro in seinem ewigen blauen Pullover. Über die ideologischen Grenzen hinweg genießt er das Vertrauen der Kommilitonen — weil er so versiert diskutiert, aber auch, weil er so blendend aussieht und etwas Seltenes besitzt, das umso nötiger ist in einer Zeit, die nach Orientierung sucht: Charisma.

Während die Kampflust die Gemüter auf beiden Seiten verkrampft, behält er seine liebenswürdige und heitere Ausgeglichenheit: Ein Braunhemd nach dem anderen begrüßt er mit Handschlag, fragt, worum es gehe. Seelenruhig hört er sich die Geschichte von den abgeschnittenen Hakenkreuzbändern an. Nein, er ist kein Freund der Nazis, er findet sie zu dumpf, lehnt ihren Antisemitismus strikt ab, doch er kann auch mit solchen Leuten reden.

Als Nächstes spaziert er auf die Seite der Linken, wo lauthals die Internationale ertönt, schüttelt auch hier jedem die Hand. Es ist die Seite, die ihm selbst zusagt: Er liest Karl Marx und kann sehr wohl unterscheiden zwischen einem internationalistisch orientierten Streben für eine gerechtere Gesellschaftsordnung, in der alle Zugang zu Bildung, Wohnraum und medizinischer Versorgung haben sollen, und dem rechtsextremen und antisemitischen Gehabe der Nationalsozialisten mit ihrem Ziel der Spaltung und Abgrenzung.

Mittlerweile sind die Parolen auf beiden Seiten verhallt. Alle schauen ihn an, auch der Rektor, und wie jeder instinktsichere Revolutionär packt Harro die Gelegenheit beim Schopf und verteilt erneut Shakehands, abwechselnd nach beiden Seiten jetzt, löst den Konflikt dadurch auf. 

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Der Autor des Buches, Norman Ohler, schreibt in der Vorbemerkung: 

"So merkwürdig, damatisch oder unwahrscheinlich einige der hier folgenden Ereignisse auch klingen: Es handelt sich nicht um einen fiktionalen Text. [...]"

20+5 Pfennig-Sondermarke der DDR-Post 1964
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