Donnerstag, 28. März 2013

Jedes Kind ist anders. Von Vielfalt, Diversity, Inklusion und Individualisierung



Jedes Kind ist anders.

"Die Einsicht, dass Menschen sehr verschieden sind, ist weit älter als 500 Jahre. Die Vielfalt hat wohl be­reits die griechischen Denker zum Grübeln gebracht. 


Dennoch sind wir immer noch nicht bereit zu akzeptieren, dass jedes Kind ein einzigartiges Wesen ist, und deshalb Normvorstellungen ihm weder in der Familie noch in der Schule gerecht werden können. -

Wenn Kinder auf die Welt kommen, sind sie bereits sehr verschieden. Einige haben ein Geburtsgewicht von weniger als 3, andere wiegen mehr als 4 Kilogramm. Sie unterscheiden sich voneinander in ihrem mimischen Ausdruck, beim Schreien und in ihrem Bewe­gungsverhalten. - Im Laufe der Entwicklung nehmen die Unterschiede zwischen den Kindern immer mehr zu. -
 

Es gibt kein Verhalten, das bei allen Kindern im selben Alter auftritt und gleich ausgeprägt wäre. Bis zur Oberstufe nehmen die Unterschiede zwischen den Kindern noch einmal deutlich zu.
Vielfalt kommt ausnahmslos bei allen Lebewesen vor, bei Einzellern und Bakterien genauso wie bei allen Pflanzen und Tieren. Ihr liegt ein allgemeines Prinzip der Biologie zugrunde. Vielfalt gibt es nicht nur unter den Kindern, sondern auch im Kind selbst. Eltern und Lehrer wundern sich immer wieder, wie unterschiedlich ausgeprägt einzel­ne Begabungen bei einem Kind sein können."


Remo Largo, Jg. 1943, Prof. em. für Kinderheilkunde, 3 Töchter, 4 Enkel.
__________________________________________




Der 7-g-Unterricht: 
Alle gleichaltrigen Schüler haben 
zum gleichen Zeitpunkt 
beim gleichen Lehrer 
im gleichen Raum 
mit den gleichen Mitteln 
das gleiche Ziel gleich gut zu erreichen.
(Hans Weigert, 1987)





Individualisierter Unterricht


Besteht nicht einfach nur in einem Methodenwechsel in den Hauptfächern, indem man in einer Klasse z.B. statt eines Mathebuchs sog. Lernpakete vorlegt, die Aufgaben auf verschiedenen Niveaustufen enthalten - auch wenn das schon ein Fortschritt sein kann. Denn individualisierter Unterricht kann nicht nur auf kognitiv-leistungsbezogene Heterogenität bezogen werden (siehe dazu weiter unten: Thorsten Bohl).


"Wenn man akzep­tiert, dass der individualisierte Unterricht nicht nur eine technische Modifikation darstellt, sondern eine kleine pädagogische Revolution bedeutet",  
(Remo Largo, 2012)


dann bedeutet "individualisiert unterrichten" mehr:
 

"Das Ziel einer kindgerechten Schule kann folgendermaßen charakterisiert werden:

  • Das Kind soll mit einem guten Selbstwertgefühl die Schule verlassen und ins Erwachsenenleben eintreten können. Denn nur mit einem guten Selbstwertgefühl wird es seine Zukunft auch mit Zuversicht in Angriff nehmen. Der junge Erwachsene soll die Oberzeugung haben: Ich schaffe es! Ich werde mich in dieser Gesellschaft behaupten!
  • Ein gutes Selbstwertgefühl hat ein Schüler dann, wenn die Schule für ihn eine positive Erfahrung war, das heißt, dass die schulischen Anforderungen für ihn mehrheitlich gut zu bewältigen und überwiegend mit Erfolg verbunden waren.
  • Zweitens soll der junge Erwachsene in der Schule alle wesentlichen Facetten seines Wesens entwickeln können, insbesondere seine Stärken, also die­ jenigen Fähigkeiten, auf denen er seine zukünftige Existenz aufbauen wird.
  • Er soll aber auch gelernt haben, mit seinen Schwächen umzugehen und diese als ein Teil seines Wesens zu akzeptieren.
(Remo Largo, 2012)
 __________________________________________

Heterogenität, Vielfalt, Diversity, Differerence, Inklusion ...


 
Im 15. Kapitel dieses Buches (erschienen 2013) schreibt Prof. Bohl unter der Überschrift "Umgang mit Heterogenität im Unterricht":


Es geht "nicht nur um die Akzeptanz von Heterogenität, sondern um die aktive und bewusste Herstellung von Heterogenität, z. B. über schulsystemische oder schulor­ganisatorische Maßnahmen. [...]

Mindestens zwei Diskurslinien können unterschieden werden
 
1. soziokulturelle Heterogenität und 
2. leistungsbezogene Heterogenität. 
Der Diskurs verläuft dabei zumeist als Abweichung von einer (unklaren, verdeck­ten) Norm, in der »der Andere« als der Leistungsschwache oder der Migrant be­zeichnet wird. Soziokulturelle Heterogenität wird insbesondere mit den Differenzkategorien 
  • Gender, 
  • Ethnizität, 
  • Milieu 
  • und So­zialschicht diskutiert. 

[...] Der Anspruch des Umgangs mit Heterogenität innerhalb der Schule wird jedoch nicht nur von außen an die Schule herangetragen, etwa über die Einführung einer neuen Schulart wie die Gemeinschaftsschule, sondern wird auch innerhalb der Schule aufgrund bestimmter Handlungspraktiken aktiv erzeugt. Differenzlinien mit Blick auf Migration, Gender oder Leistungen werden innerhalb der Schule aktiv hergestellt oder verstärkt. Dies geschieht z. B. über geschlechts­spezifisches Aufrufverhalten, über Dramatisierung vs. Entdrama­tisierung von Geschlecht und Ethnie durch Lehrkräfte oder über Mechanismen institutioneller Benachteiligung von Kindern und Jugendlichen aus bildungsfemen Familien und mit Migrationshintergrund. [...]" -  
Thorsten Bohl, 2013, S. 243 f
  ______________________________

Ein Beispiel aus England zum Thema soziokulturelle Heterogenität/ Gender





Die Autoin, Lisa Green, ist Engländerin - daher das manchmal etwas holprige Deutsch. Ich habe es der Authentizität des Textes wegen so belassen.

"Ich hatte am vergangenen Freitag, 22.3.13 , einen Treffen mit dem 'Education officer' von Stonewall in London. Stonewall ist ein englische Org, die anhand viele Kampaigne u.a. auch in Schulen, um gegen Homophobie und für Vielfalt zu werben - sie haben 2 Büros mit 45 bezahlte Angestellte!

Sie haben uns bei unserem Meeting ihre Strategie und Materialien offengelegt. Die Materialien von ihnen sind super und gehen, z.B. auch auf die gängige Widerstände aus SIcht der Schulen und LehrerInnen ein.

Ihre Strategie ist eindeutig 'top-down': 

Verankerung von Arbeit in Bezug auf "Diversity" in Gesetz und in Schul- Curriculum. Staatsangegliederte "Inspektoren" überprüfen/inspizieren die Schulen in Bezug auf verschiedenen Punkten, u.a. 'Diversity' (Vielfalt) in regelmäßige Abständen. Stonewall bietet die Materialien, die Teacher-trainings, um Schulen bei der Bewältigung der Aufgaben zu unterstutzen. Die Motivation der Schulen liegt in dem Bestehen der Überprüfung und das Streben nach einer guten Ranking.
 

Die Erstellung der Materialen erfolgten nach Forschung zu den Bedürfnissen der Betroffenen, die Universitäten oder Meinungsumfragen-Institutionen im Auftrag von Stonewall erhoben haben. Aufgrund der Ergebnissen werden die Materialien entwickelt. Es gibt bisher 3 Berichte: eins zu lgbt (lesbian, gay, bisexual, transgender) Jugendliche, eins zu LehrerInnen, eins zu Kinder aus Regenbogenfamilien.

Die Ausgangslage von Stonewall ist etwas anders, wie bei uns: sie wollen 'homophobic bullying', homophobes Mobbing,  von lgbt-Jugendlichen unterbinden. Dabei geht es ins gesamt um der Umgang mit Unterschiedlichkeit. 

Sie fingen in weiterführenden Schulen an und arbeiteten sich nach und nach unten in die Grundschulen. Die Widerstand in der Grundschule hing mit der Frage zusammen, was 'sex' und 'adult lifestyles' mit Grundschule-Kinder zu tun hat? Unser Ausgangslage ist anders, durch das Vorpreschen der Regenbogenfamilien wollen wir das Thema lgbt in Grundschulen und nach und nach in weiterführenden Schulen anbringen.

Dieses Thema ist für Regenbogenfamilien sehr wichtig. Inzwischen sind die meisten Kindern aus den ersten Wellen der Regenbogenfamilien Baby-boom in BRD in der Schule angekommen. Bislang hat jede Familie eine private, 'bottom-up' Strategie verfolgt: man redet mit den LehrerInnen, ist aktiv und präsent in Schule als ElternsprecherIn, es gibt mein Info-blatt und Kinderbuch zur Aufklärung...evtl. gibt es Sachen, wovon ich nicht weiß. Dabei bleibt das Thema an der jeweilige Familie und betroffenen Kind hängen.

Da einige Kinder diesen fokusierten Aufmerksamkeit nicht mögen oder nicht alle LehrerIn dafür zu gewinnen sind, wäre für alle besser, wenn auch wir [in Deutschland] einen top-down Strategie hätten. Unser Schule & Homosexualität Projekt [des LSVD] strebt eben das an, wenn ich alles richtig verstanden habe. Was ich aus den Mails gelesen habe, sind bereits Vorstosse von unsere Seite da, über das Kultusministerium das Thema unter 'Vielfalt' im Schul-Curriculum zu verankern. In England war das, das "a und o". Die Motivation der Schulen sich tatsächlich (auch noch) damit zu befassen liegt an die Inspektionen, die die Umsetzung in Schulen überprüfen.

Das sind evtl. sinvolle Ansätze, die man auf Ba-Wü übertragen könnte?"


Informationen zu den Aufklärungsmaterial, die ich entwickelt habe, die für Euch evtl. hilfreich oder interessant sind:
1. Infoblatt für ErzieherInnen und LehrerInnen
2. Kinderbuch "Die Geschichte unserer Familie" von Lisa Green und Petra Thorn



______________________________

 








2 Kommentare:

  1. Bestimmt wird der Weltmarkt und das tägliche Leben auch GANZ INDIVIDUALISIERT und auf den EINZELNEN bezogen Rücksicht nehmen... *Ironie aus*
    Nein, der Einzelne hat sich anzustrengen und hat zu lernen, sich auch mal unterordnen zu können!
    Im Privaten ist selbtverständlich Raum für Individualität. Aber muss sich demnächst der Arbeitgeber darum kümmern "schaffst du die Arbeit auch? gehts dir gut? kann ich dir helfen?"
    Schluss mit dieser gefährlichen Sichtweise auf den Menschen!!!
    Lasst Vernunft walten!
    Wir brauchen ein differenziertes und begabungsgerechtes gegliedertes Schulwesen, wo sich DER EINZELNE anzustrengen hat, um die Leistungsvorgaben zu erfüllen.
    Schluss mit dieser Sozialromantik! Gefährlich für Deutschland!

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Siehe auch: Leistung lohnt sich nicht. http://bildungsblog72.blogspot.de/2012/12/bildungs-aristokratie-leistung-lohnt.html

      Und:Bohl/Meissner: Expertise - Forschungsergebnisse und Handlungsempfehlungen für Baden-Württemberg. Beltz 2013:
      Schulsystem

      Der Forschungsstand zu Charakteristika und Wirksamkeit unterschiedlicher Schulsysteme liefert keine eindeutigen Befunde darüber, ob mit einem integrierten Schulsystem (wie die Gemeinschaftsschule) generell bessere Effekte erzielbar sind als in einem gegliederten System, etwa mit Blick auf Fachleistungen oder auf die Verringerung von Bildungsbenachteiligung. Diese Effekte variieren zunächst erheblich zwischen Einzelschulen, hängen also von den Bedingungen und der Gestaltungsfähigkeit der Einzelschule ab.

      Hinsichtlich der Fachleistungen zeigen sich unterschiedliche Tendenzen: Während im internationalen Vergleich leicht positive Tendenzen für integrierte Systeme zu verzeichnen sind, weisen nationale Studien eher Tendenzen zuungunsten integrierter Schulsysteme auf. Allerdings beruhen nationale Studien bisher fast ausschließlich auf Gesamtschulen, die in ihrer Struktur mit Gemeinschaftsschulen nicht identisch sind und zudem die spezifische Situation in Baden-Württemberg nicht abbilden. Immer wieder gibt es auch Beispiele innovativer Einzelschulen, denen unter Kontrolle der Voraussetzungen hohe fachliche Leistungen gelingen.

      Mit Blick auf die Verringerung von Bildungsungleichheit können integrierte Systeme flexibler auf die Plastizität der menschlichen Entwicklung reagieren; tendenziell stellt daher eine spätere Selektion einen Beitrag zur Verringerung von Bildungsungleichheit dar.

      Bei der Aufteilung in Leistungskurse werden Selektionsprozesse schulintern reproduziert. Diese Selektionsprozesse führen bei äußerer Differenzierung in gegliederten Schulsystemen zu eher unerwünschten Effekten, die größtenteils gut erforscht sind, insbesondere zu schulartspezifischen Lernmilieus, zu Schereneffekten und zu Überlappungen der Leistungskurven. Bei heterogenen Leistungsgruppen in integrierten Schulsystemen ist der Referenzgruppeneffekt zu bedenken, der aufgrund des direkten Vergleichs mit leistungsstarken Schüler/innen - relativ unabhängig von der tatsächlichen Leistungsfähigkeit führen kann, insbesondere bei Leistungsschwächeren Schüler/innen.

      Löschen