In einem Essay im SPIEGEL 9/2013 schreibt Jan Friedmann unter der Überschrift "Hauptsache Abitur":
"Die sozialdemokratischen Kultusminister schaffen ab, erleichtern, demokratisieren, alles im Namen der Chancengerechtigkeit."Das ("demokratisieren"? "erleichtern"? Beides?) findet er offensichtlich nicht gut. - Das ist seine Sache.
Er fährt fort:
"Alles im Namen von mehr Chancengerechtigkeit. Der Haken ist nur, dass es gar keine fiese Obrigkeit mehr gibt, die es zu bekämpfen gälte."
Da ist was dran - wenn man es so formuliert.
Trotzdem gibt es eine Menge Leute, die das vielleicht etwas differenzierter und/oder anders sehen, z.B. der jüngst verstorbene Philosoph und Diplomat Stéphane Hessel, der 2010 den in 25 Sprachen übersetzten Bestseller "EMPÖRT EUCH" schrieb und noch kurz vor seinem Tod in einem Interview sagte:
"Ich denke, gerade in Europa müssen die Werte, die wir damals im Widerstand oder damals in der Allgemeinen Erklärung für Menschenrechte, die wir gekannt haben, müssen erneut begründet werden. Sie sind ja da, wir kennen sie. Aber sie sind manchmal abgebogen von unseren Regierungen. Aus dem Grund, dass gerade unsere Regierungen von den Finanzmächten überstülpt sind. Da können wir daran arbeiten, diese Grundwerte wieder unseren Regierungen aufzugeben."
Darauf möchte ich an dieser Stelle nicht näher eingehen.
Friedmann schreibt:
"Als ob es noch ein Proletariat gäbe, das vom Bildungsdünkel der oberen Klassen von höheren Schulweihen ferngehalten würde."
Das wundert mich jetzt. Denn Friedmann lobt eigentlich die "heilsame empirische Wende", die die Bildungsforschung in Deutschland und anderswo "seit Pisa" genommen hat. Und gerade die folgenden PISA-Ergebnisse haben in Deutschland besondere Beachtung gefunden:
- Starker Zusammenhang zwischen Testleistung und sozialer Schichtzugehörigkeit;
- im internationalen Vergleich extrem starker Einfluss des Migrationshintergrunds, der aber mehrheitlich mit ungünstigen sozialen Bedingungen parallel läuft;
- erhebliche soziale Bedingtheit der Schulwahl auch bei gleicher Testleistung.
- Von 100 Akademiker-Kindern landen 83 auf der Uni - von 100 Arbeiter-Kindern nur 11 _______________________________________
Friedmann fährt fort:
"Lediglich ein paar letzte Leistungsstandards, an denen die Beteiligten im Bildungssystem mit gutem Grund festhalten"Will sagen: Die von ihm so gesehene "rote Monokultur" in den 16 deutschen Kultusministerien (siehe den vorhergehenden POST) hat eigentlich nichts mehr zu bekämpfen. Und da es keine fiese Obrigkeit mehr zu bekämpfen gibt, kämpfen diese roten Kultusministerien nun gegen die letzten verbliebenen Leistungsstandards in den deutschen Schulen.
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Ein Blick zurück in die Geschichte:
Soziale Selektivität.
Schon immer war BILDUNG in Deutschland philosophisch hoch besetzt. "Und nirgendwo wuchs die Anstalt dieser Bildung, das Gymnasium, so stark wie hier" in Deutschland. (Jürgen Oelkers, Uni Zürich).
1864 gab es in Preußen 264 öffentliche höhere Schulen, 1913 waren es 881. In 40 Jahren verdreifachte sich der Schüler(!)-Bestand in den höheren Schulen.
Trotzdem waren und blieben die höheren Schulen,
in denen die bürgerlichen Eliten ihre Kinder unterbringen mussten, hoch selelektiv. Nicht nur, was die Klassenfrage betraf, die soziale Schichtung, auch Mädchen waren lange Zeit ausgeschlossen: Das erste deutsche Mädchengymnasium wurde 1893 in Karlsruhe eröffnet - als privater Verein. Die daneben für die Töchter der Elite bestehenden "Höhere Töchterschulen" führten nicht zum Abitur. Im Jahr 1900 erlaubte das Großherzogtum Baden dann als erstes deutsches Land den unbeschränkten Zugang für Frauen, die ein Abiturzeugnis besaßen. (Zahlen nach Prof. Oelkers)
Als zweiten Bildungsweg -
auch zunächst nur für Jungen - gab es für Schulversager dann nur noch die Offiziers-Laufbahn (Kadetten-Anstalten) oder die privaten Landerziehungs-Heime. Letztere waren auch nur für Jungen (um die Ablenkung durch Mädchen zu verhindern) und für eine kleine begüterte Minderheit, denn das monatliche Schulgeld war etwa doppelt so hoch wie das Monatseinkommen eines mittleren Arbeitnehmers (Oelkers). Das erste Landerziehungsheim wurde von Hermann Lietz 1898 im Harz eröffnet, es begann mit 6 Jungen. Später öffneten sich auch die deutschen Landerziehungsheime für Mädchen: Der Markt der potenziellen Kunden dieser Privatschulen vergrößerte sich damit schlagartig.
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Berufliche und Allgemeinbildende Gymnasien heute und das "Proletariat"
Wenn Friedmann schreibt, dass es kein Proletariat mehr gibt, stimmt das natürlich auch nicht. Der Begriff ist zwar etwas aus der Mode gekommen, man sprach zwischendurch mal lieber von "Schichten" oder "sozialen Milieus", neuerdings aber auch wieder von "Neuem Proletariat", "Neuer Unterschicht" oder "Prekariat" (mit und ohne Abitur).
Kleiner Ausblick nach Europa, erwerbslose Jugendliche:
Italien: 36% / Spanien: 50% / Griechenland: 60% / Frankreich: 20%.
An den Oberstufen der deutschen Gymnasien
zeigt sich bisher auch weiterhin eine deutliche soziale Schichtung: Kinder der "bildungsfernen Schichten" gehen zwar vermehrt auf die höhere Schule, doch überwiegend zunächst auf eine Mittelschule/Realschule und dann nach der Mittleren Reife auf ein berufliches Gymnasium, während sich die Kinder der "bildungsnahen" Eltern gleich ab Klasse 5 auf den Allgemeinbildenden Gymnasien wiederfinden.
Siehe auch:
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Schlussbemerkung:
Relativ unabhängig von der Bildungs-Elite (Abitur, Studium, Doktor-Titel...) existiert daneben die Geld-Elite, die auf Bildung keinen besonderen Wert legt, denn hier zählen andere Status-Symbole ("Meine Kleidung, meine Villa, mein Porsche, meine Yacht..."). Interessant ist, dass Ehen tendenzmäßig innerhalb der Schichten der Eliten geschlossen werden und zwar getrennt zwischen Bildungs-Elite, Geld-Elite und alter Adels-Elite.
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Die Schlussbemerkung ist die Entscheidende!
AntwortenLöschenAufhören, die Menschen missionieren zu wollen!
Gleich und gleich gesellt sich gern! Die Menschen werden IMMER Mittel und Wege finden, sich abzugrenzen, v.a. nach unten. Der Staat kann das nicht ändern. Man kann und sollte den Wenigen, die wirklich engagiert sind, den Aufstieg ermöglichen. Alles andere ist naiv.